Dieses Projekt wird durch die EU im Rahmen des Interreg V-Programms »Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein« gefördert. Teilnehmende Museen: vorarlberg museum, Montafoner Museen, Klostertal Museum, Bauernhaus-Museum Allgäu-Oberschwaben, Verein Xenia.
www.interreg.org
Aufbrechen ins Ungewisse, die Heimat verlassen und woanders Fuß fassen – Migration prägt seit jeher das Leben der Menschen. Das war und ist in Vorarlberg genauso wie im Allgäu und in Oberschwaben.
Migration ist vielschichtig. Aber immer geht es um Geschichten von Menschen. Und die wollen wir in den Museen erzählen. Deswegen sammeln wir Lebensgeschichten, Berichte, Archivzeugnisse, Objekte und Fotografien. Dafür ist auch der Erzähl-Bus der Museen in der Region unterwegs. Er ist immer auf der Suche nach Geschichten von Menschen. Von solchen, die aus einem anderen Land nach Oberschwaben oder Vorarlberg kamen und von solchen, deren Lebenswege sich mit denen der Zuwanderer gekreuzt haben. Und genau dafür brauchen wir Sie. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte!
MACH MIT
Der Erzähl-Bus ist nun in seinem Winterquartier. Kommen Sie mit uns dennoch ins Gespräch und erzählen Sie uns IHRE Geschichte, wir freuen uns darauf!
Kontakt vorarlberg museum:
Fatih Özcelik
Kulturvermittlung
Kornmarktplatz 1, 6900 Bregenz
+43 5574 46050-524
+43 664 88979810
F.Oezcelik@vorarlbergmuseum.at
Text: Gabi Hampson, Geschäftsführerin W*ORT Lustenau
Was passiert, wenn Kinder mit der Kindheit der Erwachsenen in Berührung kommen? Sie hören, wie man auf Straßen, auf denen in ihrer Welt nur Autos Platz haben, Landhockey gespielt hat, wie man leben kann, auch wenn man kein Smartphone hat, was Dias sind und dass man Informationen nicht im Internet, sondern tatsächlich auch in Bibliotheken findet.
Aber langsam, langsam. Zuerst begeben wir uns auf eine Traumreise mit Fatih. Alle schließen die Augen. Hin und wieder gibt es ein Blinzeln, das ist OK so. Aber prinzipiell ist es leise, es wird geträumt. Fatih ist mit seinen kurzen Fragen unser Reiseleiter. Wo seid ihr gerade? Was spielt ihr gerade? Wie geht es euch? Wer spielt mit euch? Wie geht es euch, wenn ihr verliert? Wie fühlt es sich an, wenn ihr gewinnt?
Julian war im Kindergarten und hat Fußball gespielt, Benjamin in der Handballhalle, Nasrullah am Bogenschießplatz. Freunde, Trainer, Geschwister waren auch da. Geschichten vom Siebenmeter-schießen und vom draußen trainieren, wenn es in der Turnhalle zu heiß ist. Auch unser „Reiseleiter“ Fatih kommt ins Träumen. Er hat Mühle gespielt als Kind. Und mit Murmeln. Man merkt, wenn man ihm beim Erzählen zuhört, wie wichtig ihm das alles war. „Ich vermisse diese Kindheit sehr, weil ich bei meinen Großeltern war und dort gespielt habe“, erzählt er uns.
Jetzt aber fertig mit langsam, langsam. Wir wollen ja schließlich Geschichten sammeln. Wir wollen Fragen stellen. Welche Fragen? Das überlegen wir gemeinsam!
Was hast du als Kind am liebsten gemacht und wo?
Welche Person war für dich in deiner Kindheit wichtig?
Was hast du in deiner Freizeit gemacht?
Bist du gerne in die Schule gegangen?
Oli stellt sich als Interviewpartner zur Verfügung, damit die Kinder üben können. Ganz professionell beginnen sie gleich mit einer Begrüßung und mit der Frage, ob sie denn überhaupt ein Interview machen dürfen. Dann kommen auch schon die Fragen. Und Oli erzählt. Über ein lebenswertes Leben ohne Smartphone, über den Lehrer, der Diavorträge machte, um von seinen Reisen zu erzählen, über Karotten, die er direkt aus dem Boden gezogen und im Bach gewaschen hat, über den Opa, der wegen einer Kriegsverletzung nur eine Hand hatte. Über eben diesen Opa, der eine wichtige Bezugsperson für ihn war. Und über den Start vom Space Shuttle, den er sich im kleinen Fernseher anschauen durfte, obwohl es an einem Schultag ausgestrahlt wurde und Oli eigentlich gerne in die Schule ging. Das Space Shuttle hat ihm gefallen. So sehr, dass er Astronaut werden wollte. Ein Astronaut wurde aus Oli nicht, dem Universum ist er in seiner Baumhütte am nächsten. Aus der Kindheit hat Oli seine Liebe fürs Lesen mitgenommen. Seine Mama war froh, als er endlich die Bücherei für sich entdeckte, weil er vorher seiner Mama so viele Fragen gestellt hatte.
„Danke für das Interview und die Zeit, die du dir genommen hast und einen schönen Tag noch!“, sagen die Interviewer:innen und schließen somit das Interview genauso professionell ab, wie sie es begonnen hatten. Nun geht es ans Üben in Zweiergruppen. Wir werden bereit sein für den zweiten Tag!
Tag zwei. Ein Bus, acht vorbereitete Interviewer:innen, ein Aufnahmegerät. Wo sind die Interviewpartner, wem könnte man Fragen stellen? Die Kinder machen sich in zwei Teams auf den Weg durch die Hannes Grabher Siedlung. Zwei Herren in einem Umzugswagen arbeiten gleich neben dem Bus. „Entschuldigen Sie, dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen? Über Ihre Kindheit?“ Einer nickt dem anderen zu. Ein Nicken, das bedeutet: geh du bitte. Und der zweite lässt sich nicht lang betteln, der Charme der Kinder ist zu groß. Sie bitten ihn in den Erzählbus, das Interview kann beginnen. Es folgen weitere Menschen, die in der Siedlung wohnen, die gerade durchspazieren, die hier arbeiten. Auch Fatih, Sofie und Gabi kommen zum Zug. „Wo arbeiten Sie?“, fragen sie Gabi ganz förmlich und grinsen dabei. Die Kinder wissen, wo sie arbeitet und was das W*ORT ist. Sie wissen aber auch, dass potentielle Zuhörer:innen das nicht wissen würden und stellen daher diese Frage. Die Interviews sind im Kasten, werden gesichtet und analysiert. Das Material für Tag drei wird gespeichert.
Tag drei. Der Erzählbus ist wieder in der Garage, das aufgenommene Material auf Gabis Computer. Die Gruppe lässt die Interviews Revue passieren. Woran erinnern sie sich? Was ist ihnen von den Geschichten geblieben? Haben sie auch wirklich zugehört? Tatsächlich – wie man aus ihren Erzählungen eindeutig hören kann!
Dann schauen sie gemeinsam das Interview mit Aydın an. Als er 11 Jahre alt war, ist sein Vater gestorben und er wurde von seinem Onkel groß gezogen. Er hat sieben Onkel und sechs Brüder. Sein Opa schenkte ihm eine Saz und immer, wenn er mit seinen Brüdern zusammen ist, spielen sie gemeinsam. Als er nach Österreich kam, konnte er kein Deutsch. Die anderen Kinder konnten kein Türkisch. Er spielte trotzdem mit ihnen. „Geredet“ haben sie mit Handzeichen. Das ist nur ein Teil der Informationen, die sich die Kinder vom Interview gemerkt hatten. Der begrenzte Raum im Erzählbus, in dem sie sich zu zehnt befanden, Aydın im Fahrersitz und als Erzähler, Fatih als Fragensteller, die Kinder als aufmerksame Zuhörer:innen, war etwas ganz Besonderes. Mit den Fakten von Aydın schrieben sie Geschichten. Ein Erzählprotokoll, eine erfundene Geschichte über Aydın, der einen Zauberstab verschluckt hatte und nun mit seinen Händen zaubern konnte. Auch das Interview von Gabi hörten sie sich an. Blutige Zähne, viel Bier, eine Vorliebe für Schokolade. Zwei Fakten, einmal Fake News. Was ist was? Das war gar nicht so wichtig.
Die W*ORT-Reise im Erzählbus ging zu Ende. Fatih wird immer wieder mit dem Bus unterwegs sein und Geschichten sammeln. Oliver ohne Bus, ebenfalls als Sammler von Geschichten und Erzählungen. Wir im W*ORT sowieso.
Ein Parkplatz voller Erinnerungen an die Kindheit und Jugend. Wir sprechen über das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie, die im Schichtbetrieb arbeitet und oft nur am Sonntag gemeinsam an einem Tisch sitzt.
Vielleicht kennen Sie die Geschichten von Menschen, die sich in Wohnheimbaracken ein Zimmer teilen mussten. Jede Familie ein Zimmer und welche mit Gemeinschaftskochstellen und Sanitäreinrichtungen. Gürkan teilte sich mit fünf Familienmitgliedern ein Zimmer und mit 35 Menschen den Rest von der Baracke. Er lebt heute in Hard, für ihn der schönste Fleck auf Erden. Er kann sich auch keinen anderen Ort zum Leben vorstellen. Er hat die vielen Veränderungen dieser Ortschaft miterlebt. Gürkan arbeitet in einem Produktionsbetrieb, und wenn er Zeit findet, schreibt er. Für ein Online-Portal übersetzt er Nachrichten aus Vorarlberg ins Türkische. Es ist ihm wichtig, dass die Menschen mehr über das Land, in dem sie leben, erfahren. Deshalb verfolgt er die Presseaussendungen und überträgt sie in die sozialen Kanäle.
Ali Gedik war 15 Jahre alt, als er in Begleitung seines Onkels aus dem Südosten der Türkei nach Vorarlberg kam. „Du warst tatsächlich ein Gastarbeiter, so hat man dich gesehen, so hast du dich gefühlt und so wurdest du auch behandelt“, ...
... berichtet er über seine ersten Jahre, in denen er in mehreren großen Firmen gearbeitet hat. Später setzte er sich aktiv für die Rechte der Migranten ein, engagierte sich politisch und machte auch auf die Bedrohung der kurdischen Minderheit in der Türkei aufmerksam, der seine Familie angehörte. Nach 17 Jahren verließ Ali Gedik Vorarlberg, um in Wien eine zweite Berufskarriere als Sozialarbeiter zu beginnen.
Wir besuchen Halil in seinem Vereinshaus. Früher waren diese „Gasthäuser“ eine wichtige Anlaufstelle für zugewanderte Menschen. In einer Zeit ohne Internet und Handy. „Damals“, so berichtet Halil, „gab es noch gute Gespräche am Tisch.“ Nachmittags Schwarztee und am Abend durfte es dann auch Rakı sein. Wir wollten von unseren Gesprächspartnern auch mehr über unseren Ford Transit erfahren:
„… der war eben sehr bequem zum Fahren …“
„… es wurde erzählt, dass der Ford Transit in der Türkei produziert wurde …“
„… sehr stabil und, wenn was zu reparieren war, konnte man es gleich an Ort und Stelle erledigen …“
Halil ist eines von sechs Kindern, er kam 1971 nach Vorarlberg. Er wollte gar nicht, aber sein Vater war der Meinung, es würde ihm dort bessergehen. Mit 500 DM in der Tasche machte er sich auf den Weg und fand über Salzburg seinen Weg nach Vorarlberg. Die erste Zeit, also die vor dem Familiennachwuchs, war für viele unbeschwert. Man verdiente zwar nicht viel, aber genug, um für sich selbst zu sorgen. Irgendwann kamen dann die Frauen und Kinder nach Vorarlberg. Das Geld reichte nicht aus, ein Grund, warum viele ihre Kinder bis zur Pensionierung nur im Sommer getroffen haben. Halil holte erst nach 20 Jahren seine Frau nach Vorarlberg.
„Tja, das Geld wurde damit knapp und auch die Frauen hatten angefangen zu arbeiten. Viele Männer sind nach der Schicht bei mir gesessen und haben Karten gespielt, für die Frauen war das anders. Nach der Arbeit war vor der Arbeit zu Hause. Sie haben Großartiges geleistet, das darf man nie vergessen.“
Wir sind zu Gast bei Familie Şensoy in Feldkirch. Wir fahren vor und lassen den Motor laufen. Baba wartet schon ungeduldig in seinem Garten auf uns und seine Augen glänzen – ein Stück seiner Geschichte steht vor seiner Tür.
Die ganze Familie steht bereit, ein emotionaler Augenblick. Ich überreiche ihm die Schlüssel. Wir steigen ein und er fährt los. Bevor wir losfahren, stellt er noch seinen Sitz ein (ich dachte immer, der wäre nicht zu verstellen… wieder etwas gelernt!)
„Anschnallen!“ Im fahrenden Ford Transit kann es im Inneren ziemlich laut sein. Schon einmal ohne Klimaanlage drei Tage und drei Nächte unterwegs gewesen? – in diesem Gefährt kaum vorstellbar für uns junge Menschen.
„Wir brauchten keine Klimaanlage“, beginnt er zu erzählen. „Mit diesem Auto habe ich 13 Haushalte von Vorarlberg in die Türkei gefahren.“ Baba lebt seit 1972 in Österreich und hat schon so einiges erlebt. Zu unserer Überraschung erfahren wir von Ersatzteilen vom Folgemodell des Ford Transit in seinem Keller. Eine Fahrt nach Istanbul dauerte damals drei Tage. Heute: 24 Stunden.