Wie kann ein Museum mit der Corona-Krise umgehen? Wie wird die Sammlung bestückt, damit später etwas über diese denkwürdige Epoche gezeigt und erzählt werden kann? Das vorarlberg museum sammelt Objekte, Fotos und Texte. Die Schriftstellerin Daniela Egger führte im Auftrag des Museums ein literarisches Tagebuch in Zeiten von Corona und die Fotografin Sarah Mistura hielt bildlich fest, wie das Virus das Leben der Menschen veränderte.
Daniela Egger, geboren 1967, lebt und arbeitet in Bregenz.
Sie schreibt Erzählungen, Theaterstücke, konzipiert Ausstellungen und leitet das Projektmanagement der Aktion Demenz.
Wann: Do, 04. Juni, 14.00 – 16.00 Uhr
Wo: Museumscafé
Kein Beitrag auf unserer Seite vorarlbergmuseum/digital wurde häufiger angeklickt als das Corona-Tagebuch von Daniela Egger. Mit dem Tag der Wiedereröffnung des Museums wird ihr letzter Beitrag veröffentlicht. Zum Abschluss laden wir die Leser*innen am 4. Juni herzlich zu einem persönlichen Gespräch mit ihr im Museumscafe ein. Sie freut sich darauf, sich mit Ihnen über Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in Zeiten von Corona auszutauschen. Einfach vorbei kommen und Platz nehmen.
Mittwoch 3. Juni 2020 | 903 Infizierte in Vorarlberg | 15 aktuell Erkrankte
Morgen, 4. Juni 2020, gehen die Grenzen wieder auf, Österreich fordert keine Testergebnisse oder Quarantäne-Maßnahmen von Ein- und Ausreisenden mehr, ausgenommen davon sind derzeit noch Länder wie Italien, Großbritannien und Spanien. Die Miliz rüstet ab (ich verstehe immer noch nicht, weshalb die alle hier waren).
Morgen öffnet Venedig seine Türen wieder für Touristen.
Morgen schließt das vorarlberg museum wieder auf, und meine Tagebucheinträge enden mit diesem hier. 34.500 Wörter habe ich seit dem 13. März geschrieben. Morgen schreibe ich keine Zeile mehr, sondern verabschiede mich mit der ersten offiziellen Veranstaltung des Hauses, bei der ich von 14:00 bis 16:00 im Museumscafé mit interessierten Besucher*innen Gespräche halten werde. Und davor geht das Corona-Tagebuch-Team Mittagessen und feiert das Ende einer Zeit, die so vieles sichtbar gemacht hat.
Morgen beginnt in den USA ein Bürgerkrieg, 1600 Soldaten stehen in Washington bereit, um gegen Demonstranten vorzugehen. Ein unseliges historisches Ereignis. Als Trump im Jahr 2016 die Wahl gewonnen hat, habe ich geweint. Man muss nicht hellsichtig sein, um schwarze Wolken aufziehen zu sehen.
Es geht mir nicht nur um die USA, wir alle stehen auf blutgetränktem Boden, es gibt keinen Grund, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen. Rassismus und strukturelle Gewalt sind in Österreich kein bisschen besser. Korruption, Gier und Dummheit, damit sitzen wir im Glashaus und sind froh, dass wir gerade nicht kämpfen müssen. Wir dürfen stille Mahnwachen halten für Menschen, die nach wie vor in Lagern festgehalten werden – die nächste wird am Sonntag, den 21. Juni von 18:00 bis 19:00 Uhr vor der Landesregierung stattfinden. Alle Grenzen öffnen, aber über die Menschen auf der Flucht, die in desaströsen Lagern festsitzen, redet niemand. Wer ebenfalls immer noch festgehalten wird, sind die Menschen, die in Pflegeheimen leben. Alle Grenzen öffnen, aber für die Ältesten unserer Gesellschaft wird von der Regierung nichts thematisiert. Morgen halte ich eine kleine persönliche Mahnwache vor dem Pflegeheim in Hohenems, damit meine alte Dame endlich mit mir spazieren gehen darf.
Morgen lesen Heidi Salmhofer und Hanno Dreher einen langen Text von mir im bereits 20. Livestream von „Kunst hilft Kunst“ aus der Theatergarage, mit dem schon 10.000 Euro für Künstler*innen gesammelt wurden. Mein Text „Kun“ erzählt von einem der ersten afroamerikanischen Baseballspieler der USA in einem ansonsten „weißen“ Team, der von Rassisten massiv bedroht wurde. Es ist eine wahre Geschichte aus den 1920er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sie verliert offensichtlich nie an Aktualität. Ab 20:00 Uhr hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=zeoIj-_S9lg
Morgen ist immer auch ein Versprechen.
Dienstag 2. Juni 2020 | 901 Infizierte in Vorarlberg | 15 aktuell Erkrankte
Der kanadische Premierminister Justin Trudeau schweigt 20 Sekunden lang in die Kamera, als Reaktion auf Trumps Drohung, militärisch gegen die Bürger*innen seines Landes vorzugehen. Wie dankbar bin ich für solche Menschen in einer Führungsposition.
Ich erinnere mich an diese starke junge Frau, deren Namen ich leider vergessen habe. Sie hat während einer Kundgebung gegen privaten Waffenbesitz in den USA sechs Minuten und 20 Sekunden lang geschwiegen – so lange dauerte der Amoklauf an ihrer Schule, der viele Todesopfer gefordert hat.
Schweigen an der richtigen Stelle kann mehr bewirken als jedes gesprochene Wort. Ich werde sie nicht vergessen, nicht ihr Gesicht und nicht ihren Mut, nur den Namen (sie heißt Emma Gonzalez).
In den USA zeigen sich tausende Polizist*innen solidarisch mit den Protestierenden. Ein Polizeichef und eine Gouverneurin lassen Trump vor laufender Kamera wissen, dass er jetzt besser schweigen sollte. Rechtzeitiges Schweigen ist aber auch eine Frage des Taktgefühls, Trumps Schweigen wäre eine Wohltat, Straches Schweigen würde mir besser gefallen als sein peinliches Herumwinden. Ich habe nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit, und die für narzisstisch geprägte Menschen mit kriminell veranlagtem Machthunger ist schon so lange erschöpft. Es sind halt viele von ihnen an führende Positionen gelangt, und deshalb können sie sich jetzt von unserer Aufmerksamkeit ernähren. Wenn nur die Medien weniger willig die Bühne bereiten würden.
Aber als wären die Kräfte immer gleichmäßig verteilt, bringen Gewalt und Drohung immer auch das Gegenteil hervor: Mut und Solidarität, Liebe. So wie auch die brachiale Zerstörung der Regenwälder eine deutliche Bewegung hin zu Sorgfalt und Achtsamkeit mit der Natur mit sich bringt. In Neuseeland, Bangladesch, Ecuador und Kolumbien besitzen Naturschutzgebiete, Wälder und Flüsse denselben gesetzlichen Status wie der Mensch. Mailand plant 35 Kilometer an Straßen in der Stadt für Radfahrer und Fußgänger zu öffnen und Autos zu verbannen. Das Projekt heißt „Strade Aperte“ – die Coronazeit hat den Prozess um zehn Jahre beschleunigt.
Dasselbe lässt sich aus so vielen anderen Städten berichten, so werden unter anderem Bäume gepflanzt, weltweit und millionenfach. Wer in Litauen ein Auto gegen ein Fahrrad eintauscht, erhält eine Prämie (Deutschland muss mit seinen Abwrackplänen leider nachsitzen). Jede Strömung bringt ihr Gegenteil hervor.
Montag 1. Juni 2020 | 901 Infizierte in Vorarlberg | 15 aktuell Erkrankte
Heute habe ich ein Geburtstagsgeschenk an Ruben eingelöst, coronabedingt mit etwas Verspätung: Wir waren Kartfahren. Zwei Erwachsene, zwei Jugendliche. Ich war die lahme Ente auf der Bahn und musste unter meinem Helm herzlich über mich selbst lachen, weil mich dieses Rennfahren auf einer holprigen Piste null interessiert hat und ich nur darauf gewartet habe, bis die Zeit endlich um war. Mein Sohnemann und sein Vater hingegen sind nicht nur vier Mal an mir vorbeigedüst wie wilde Hummeln, die sind auch gleich noch ein zweites Mal in die Fahrzeuge gestiegen. Ruben strahlend übers ganze Gesicht. Das ist eine Entdeckung – ich finde Kartbahnfahrten ein cooles Geschenk für Jungs. Ich muss ja nicht unbedingt selbst mitmachen.
Am Freitag werden die Lehrerinnen der VS Lustenau dem Bundeskanzleramt in Wien eine Unterschriftenliste von Eltern und Lehrer*innen gegen den Zwang zur Ziffernnote überreichen, auch aus Salzburg und Wien werden solche Übergaben angekündigt. Es geht dabei hauptsächlich um die Autonomie der Schulen – in Vorarlberg haben bis vor kurzem ca. 95 % aller Volksschulen ohne Ziffernnoten gearbeitet. Die schwarz-blaue Regierung hat dies per Dekret aufgehoben. Ich finde die Bemühungen, die Schulautonomie zurückzuerobern, sehr wichtig – es wäre gerade jetzt passend auf Ziffernnoten zu verzichten, zumindest dort, wo die verbale Leistungsbeurteilung schon so ausgereift und etabliert war. Soll denn wirklich benotet werden, ob ein Kind daheim in Ruhe lernen konnte? Oder wie gut seine Eltern es täglich dabei begleitet haben? Vielleicht wie die technische Ausrüstung zu Hause ist?
Trump wurde offensichtlich (zumindest kurzzeitig) in einen Schutzbunker unter dem Weißen Haus gebracht. Könnte man ihn nicht… ? Es ist eine brandgefährliche Situation und diesen Mann aus dem Verkehr zu ziehen wäre wohl das einzig vernünftige derzeit. Eine bildliche Gegenüberstellung der Ausrüstungen der US-Polizei, die derzeit auf die Demonstrant*innen losgehen soll, mit der Ausrüstung des medizinischen Personals in den Krankenhäusern sagt wirklich alles – das ist ein trauriges Twitterfundstück.
Stefan Yazzie Herbert ist halb Navaho und halb Vorarlberger – er macht auf die angespannte Situation der Navaho in den USA aufmerksam und bittet um Spenden.
Ich denke all die Stämme, denen so viel Unrecht geschehen ist und gerade jetzt unter anderem auch im Amazonas geschieht, brauchen unsere Unterstützung – und wenn es nur dem Zweck dient, sie wissen zu lassen, dass ihre Not wahrgenommen wird. Hier kann gespendet werden: https://www.gofundme.com/f/navajo-nation-relief
Dies ist eine der letzten Eintragungen, am Donnerstag endet das Corona-Tagebuch und das Museum nimmt seinen Betrieb wieder auf. An diesem Tag ab 14:00 Uhr werde ich gemeinsam mit den beiden Mitarbeiterinnen des Museums, die für Lektorat und Webseite verantwortlich sind, im Museum anwesend sein, falls jemand Zeit und Lust hat, sich mit uns über diese verrückte Zeit auszutauschen.
Sonntag 31. Mai 2020 | 901 Infizierte in Vorarlberg | 16 aktuell Erkrankte
„The United States of America will be designating ANTIFA as a Terrorist Organization“ – der heutige Tweet des Präsidenten der USA. Antifaschismus soll illegal werden. In 30 Städten sind die Menschen auf den Straßen, in New York fährt ein Polizeiwagen mitten in die Menschenmenge hinein, Polizisten schießen wahllos auf unbewaffnete Protestanten, es werden Läden geplündert – man hat das Gefühl, das Land versinkt im Chaos. Es gibt aber auch Polizeitruppen, die Solidarität mit den Protestierenden zeigen. Der POTUS feuert die Kämpfe an, spielt Golf und twittert. Was er schreibt, hat keinen Bezug mehr zur Realität, wie der Guardian berichtet: „In reality, Donald Trump doesn’t run the government of the United States. He doesn’t manage anything. He doesn’t organize anyone. He doesn’t administer or oversee or supervise. He doesn’t read memos. He hates meetings. He has no patience for briefings. His White House is in perpetual chaos.“
Ich glaube schon, dass er am Ende ist. Nur ... wie lange müssen wir diesen Menschen noch ertragen, bis sein Abgang vollzogen ist? Und wer soll das Chaos nach ihm aufräumen? Wer auch immer diesen Job annimmt, erbt 40 Millionen Arbeitslose, Nahrungsmittelknappheit, massive rechtsradikale Gruppierungen und einen Imageverlust, der kaum mehr aufzuholen ist. Und das ist noch längst nicht alles. In New York droht ein Kollaps, weil die Reichen seit der Pandemie aufs Land fliehen und mit ihnen die Steuern verschwinden. Die Zeit berichtet von den Zuständen in dieser einst so lebendigen Metropole: „Die Reichen haben New York getötet“
Ich verstehe unsere Medien nicht – egal wo, überall muss ich in das unverschämte Grinsen von Strache blicken. Warum bekommen solche Gestalten andauernd prominente Plattformen geboten? Meine Aufmerksamkeit ist erschöpft, und dass man jetzt nach der Frau fahndet, die in Ibiza eine wichtige, aber sicher nicht wesentliche Rolle gespielt hat, ist einfach übel. Was für ein Signal soll das aussenden?
Die Presse berichtet, dass Frau Hartinger-Klein in den U-Ausschuss soll (eine Forderung der Neos), und verweist auf ein verheerendes Sittenbild der Regierung Kurz 1. Ob Kurz 2 die Ergebnisse dieser Recherchen übersteht? Ich fürchte, wir müssen uns bald auf eine Opferlamm-Nummer des Bundeskanzlers einstellen, und das nachdem er so zufrieden ist mit seiner Arbeit in dieser schwierigen Zeit. Nebenbei unterstellt er in einem Interview den Selbstständigen und Kleinunternehmer*innen, dass sie zu blöd sind, ihren Namen auf dem Formular für den Härtefallfonds nicht richtig ausfüllen zu können oder Steuern zu hinterziehen. Er macht sich wirklich beliebt.
In Rubens Schule ist ein Kind an Covid-19 erkrankt, sein Cluster ist davon aber nicht betroffen. Die Zahlen bleiben stabil, weshalb auch die Grenzen rund um Österreich geöffnet werden, außer nach Italien. Pünktlich zum Sommerbeginn verhält sich das Virus hierzulande kooperativ. Wie auch immer, ich gehe gärtnern.
Ich höre einem Gespräch über Gemeinwohlökonomie zu, Christian Felber im Gespräch mit Veit Lindau. Es ist ein fundiertes Wirtschaftssystem, das seit vielen Jahren im Stillen sehr erfolgreich ein Umdenken und solidarisches Handeln anstößt. Ich habe Herrn Felber einmal auf einem Vortrag in Vorarlberg erlebt (das ist allerdings sicher sechs Jahre her) – und war verblüfft, weil eine ganze Reihe bekannter Vorarlberger Unternehmer*innen mit mir im Publikum saß und danach im Workshop Stellung bezog. Sie wollen nicht mehr so weiter wirtschaften, hieß es, und es herrschte großes Einvernehmen darüber, dass die Zukunft nach einer neuen, fairen Form des Unternehmertums verlangt. Seit zehn Jahren wächst die Gemeinwohlökonomie, gedacht für die EU, aber die Nachfrage kommt inzwischen aus allen Kontinenten, berichtet Felber in dem Interview.
Es gibt ebenso viele wundervolle Strömungen wie gefährliche, nur die letzteren machen viel mehr Lärm. Deshalb lohnt es sich, nach den anderen gezielt zu suchen.
Samstag 30. Mai 2020 | 900 Infizierte in Vorarlberg | 15 aktuell Erkrankte
Die New York Times hat recherchiert, dass der US-Präsident vom Antritt seines Amtes bis Oktober 2019 mehr als 11.000 Tweets veröffentlicht hat. Jetzt hat Twitter begonnen, die Äußerungen Trumps einem Faktencheck zu unterziehen und teilweise zu entfernen – mit der Begründung, dass diese zur Gewalt aufrufen, „When the looting starts, the shooting starts.“ In diesen Posts wurden 18.000 Lügen nachgewiesen. Trump will gegen die Firma vorgehen, Jack Dorsey – das ist der Multimillionär, der einen Teil seines Vermögens für ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Verfügung stellt – wirft ihm Machtmissbrauch vor. Das alles könnte einer Billy-Wilder-Komödie entstammen, wenn es nicht so brandgefährlich wäre. Der Mann hat Zugang zu Atomwaffen in unvorstellbarem Ausmaß.
Berührend ist zu sehen, dass sich eine lange Reihe weißer Frauen (!) vor die afroamerikanische Bevölkerung stellt, die sich seit Tagen für ein juristisches Nachspiel des brutalen Mordes an einem Afroamerikaner durch vier Polizisten einsetzen. Es dauerte Tage, bis der Mörder endlich angeklagt wurde – ginge es nach Trump, würde er stattdessen Waffen gegen diesen Teil der Bevölkerung einsetzen.
Die Proteste eskalieren weiter, zu Recht. So liest man in der Süddeutschen: „Im vergangenen Jahr hat es nach Berechnungen des Projektes ‚Mapping Police Violence‘ nur 27 Tage gegeben, an denen niemand durch die Hand eines Polizisten gestorben ist. US-Polizisten haben im vergangenen Jahr 1099 Menschen getötet, meist mit der Schusswaffe.“
Unsere Familienministerin Frau Aschbacher überbietet derzeit alles an Peinlichkeit und mir fehlen die Worte für das Bild, das mir gleich am Morgen den Tag verdirbt. Eine vierköpfige Familie mit einem Baby auf dem Arm steht vor ihr; sie, die huldvoll dem Baby einen 100-Euro-Schein mit Kneifzange überreicht. Eine Unterüberschrift lautet: „Ministerin startet mit Auszahlung.“ Was ist mit diesen Leuten los? Wir sind mitten in einer der größten Wirtschaftskrisen und die spielen Weihnachtsmann?
Kann man bitte irgendwo ernsthafte Menschen mit Anstand für die Regierung anfordern? Ich wünsche mir schon wieder Frau Bierlein zurück.
Ahh, ich wollte mich auf positive Ereignisse konzentrieren. Es ist schwer, aber immerhin:
In New York wie auch in Madrid sind Fahrräder ausverkauft, berichtet der Weltspiegel; Rom, Paris, der Trend ist weltweit sprunghaft angestiegen ... Manche Regierungen fördern die Mobilität mit Fahrrädern intensiv. Seit Corona sind immer mehr Menschen bereit umzusteigen. Spanien beschließt ein Grundeinkommen, das nichts mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen zu tun hat – aber es ist ein Beginn.
Und ab Dienstag dürfen die Schulen wieder ohne Masken betreten werden, Turnunterricht und Singen, alles wieder möglich. Ruben meint, wenn es am Nachmittag Turnunterricht geben wird, dann möchte er gern hingehen. Dieses Angebot wird als freiwilliges zusätzliches Angebot deklariert – mal sehen, wie die Schule das handhaben wird.
Freitag 29. Mai | 900 Infizierte in Vorarlberg | 15 aktuell Erkrankte
Am Sonntag, 7. Juni steht mein Stück „Who cares? Welche Krise?“ wieder auf dem Spielplan des Landestheaters. Es wird auch im Herbstprogramm sein, dann aber hoffentlich wieder in der Box aufgeführt werden, denn es lebt auch davon, dass Publikum und Schauspieler*in sich nahe sind. Ich freue mich auf das Abenteuer im großen Haus.
Heute war endlich meine Schwester aus Zürich auf Besuch, und wir haben eine kleine Flasche Champagner auf der Terrasse getrunken – einfach weil. Weil wir zum Beispiel ein paar Tage gemeinsam in Venedig verbracht hätten, hätte uns nicht ein Virus einen Strich durch die Rechnung gemacht, und weil wir jetzt stattdessen auf den Bodensee schauen und zufrieden sind. Weil wir schon ziemlich viel miteinander erlebt haben und auch ziemlich viel ganz ohne einander. Weil alles sein darf, wie es eben ist.
Im Weltjournal wird ein junger Venezianer portraitiert, der versucht, ein normales Leben in seiner Heimatstadt zu führen, und dabei geht es nicht um die Covid-19-Ausnahmezeit. Die meisten jungen Leute verlassen die Stadt, – außer im Tourismusbereich gibt es kaum mehr Arbeit. Man lebt dort ein bisschen wie in einem Zoo. Die einheimischen Geschäfte müssen schließen, weil der Wettbewerb gegen große Ketten nicht zu schaffen ist. Venedig stirbt aus, wegen der 16 bis 20 Millionen Tagestouristen pro Jahr. Das ist eine schreckliche Entwicklung für attraktive Städte. Die Bewohner*innen von Barcelona beispielsweise leiden ebenfalls, das ging schon so weit, dass es zu Drohungen gegenüber und Anschlägen auf Touristen kam. Trotzdem, nachdem ich die Bilder meiner geliebten Stadt Venedig gesehen habe, habe ich Fernweh.
Im Internet fällt mir ein Videobeitrag auf: Der brasilianische Präsident Bolsonaro wird vor laufenden Kameras nach einer offiziellen Rede von einem Fallschirmjägerbataillon gegrüßt – mit Hitlergruß. Das erklärt einiges.
Mein Sommer wird neu geplant, nachdem ich nicht daran glaube, dass wir nach England und Schottland reisen werden, wie wir es eigentlich vorhatten. Stattdessen werde ich gemeinsam mit einer Freundin auf einem Permakulturhof in Tirol ein Seminar absolvieren. Eine Woche lang lernen und erleben wir, wie ein solcher Garten entsteht und funktioniert. Das ist jetzt genau richtig, ich will meinen Blick schärfen und in der Erde wühlen. Vor meinem inneren Auge haben sich die Bilder eines solchen Gartens zunehmend verdichtet, ich weiß nicht, wie viel ich davon wirklich umsetzen werde oder will, aber dieser eine nächste Schritt ist jetzt genau richtig.
Donnerstag 28. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 14 aktuell Erkrankte
Meine Schwester wird morgen aus der Schweiz kommen für einen längst überfälligen Besuch. Auskünfte über die Grenzen bei Zollbeamten, auf Webseiten, in den Medien und von Freunden, die bereits zwischen Österreich und der Schweiz pendeln, sind mehr als widersprüchlich. Nach Einschätzung der Lage sollte sie problemlos einreisen können, selbst die Züge fahren wieder bis nach Bregenz durch – und was wichtiger ist, sie sollte auch wieder zurück in die Schweiz können, ohne in Quarantäne zu müssen. Aber das alles wirkt sehr willkürlich, denn man ist darauf angewiesen, dass der Grenzbeamte die Situation richtig einschätzt. Und wenn nicht? Quarantäne in der Schweiz, daheim? Ich fühle mich in dieser Nähe zu zwei geschlossenen Grenzen, die jetzt pro forma wieder geöffnet wurden sehr unwohl. Die Regierung eiert herum, aus der mutigen Entschlossenheit ist Unsicherheit und Dilettantismus geworden. Ein Finanzminister, der einen Budgetbeschluss vergeigt, weil er einige Nullen anzuführen vergisst – ich glaube, auch das ist ein historisches Ereignis. Ich frage mich, warum niemand in der Verwaltung den Mann darauf hinweist, bevor er damit in den Nationalrat geht. Entscheidet der alles alleine in seinem Büro, ohne sich unterstützen zu lassen? Bei diesen Summen? Mir wird schwindlig, wenn ich mir das im Detail vorstelle – und genauso schwindlig kommt es auch bei den kleinen Unternehmer*innen an, die mit Taschengeld abgespeist werden.
Gut, seit heute gibt es mehr Förderung für Kulturschaffende, aber auch da wurden wieder Ausschlusskriterien gewählt, die genau die Geringverdiener*innen außen vor lassen. Man muss im letzten Jahr schon so viel verdient haben, um überhaupt in der SVA versichert zu sein, oder sich freiwillig versichert haben, was man nur tut, wenn man nicht durch einen Nebenjob eh schon pflichtversichert ist.
Heute war ich noch einmal bei der Pflegerin aus Tschechien, weil sie mir ihre Korrekturen mündlich mitteilen wollte. Sie hat keinen Computer zur Verfügung – und sie braucht dringend jemanden, mit dem sie sich austauschen kann. Was diese Frauen auf sich nehmen, war mir nicht in voller Tragweite bewusst. Die Einsamkeit ist groß, und die Situationen in den Familien der zu Pflegenden sind teilweise schrecklich. Wir sprechen über den hohen Medikamentenverbrauch unserer ältesten Generation, die bis zu 16 Tabletten täglich zu sich nimmt, verschrieben von Ärzten natürlich. Da kennt sich niemand mehr aus, welche Wirkung diese Kombination entfaltet – sie jedenfalls musste mit einer ihrer Klientinnen zunächst mal einen Entzug machen, so stark war deren Abhängigkeit. Die Wasserproben im Bodensee waren schon vor Jahren in den Medien wegen der extrem hohen Belastung durch Antidepressiva und Hormone. Da wird mir schon wieder schwindlig.
Mittwoch 27. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 14 aktuell Erkrankte
UN-Generalsekretär Guterres war schon zu Beginn der Pandemie mit der Forderung nach einem globalen Waffenstillstand zur Stelle. In einem Interview mit Vatican News berichtet er, was daraus geworden ist: „Bisher hat der Aufruf die Unterstützung von 115 Regierungen, regionalen Organisationen, mehr als 200 zivilgesellschaftlichen Gruppen und anderen religiösen Führern erhalten. 16 bewaffnete Gruppen haben sich dazu verpflichtet, die Gewalt zu beenden. Darüber hinaus haben Millionen von Menschen einen Online-Antrag auf Unterstützung unterzeichnet.“ Naja, 16 bewaffnete Gruppen sind überschaubar, aber die dürfen ja auch nicht tun was sie wollen, wenn ich die Spielregeln im Krieg richtig verstanden habe.
Außerdem prangert er die grassierenden Verschwörungstheorien an, die sich derzeit verbreiten, wie etwa die absurden Behauptungen eines angeblichen Regierungsmitglieds der USA mit dem Decknamen QAnon. Nur um eines klarzustellen: Das alles gibt es natürlich, und Wahnsinnige, die Kinder misshandeln, sind überall, vermutlich auch in unserer Nähe. Aber dass ausgerechnet Trump zum Helden stilisiert wird im Kampf gegen solche Machenschaften, ist schwer nachvollziehbar. Zum Glück gibt es Minikama, eine Plattform die falsche Nachrichten prüft.
Auch Guterres hat eine ähnliche Plattform gegründet, um Falschinformationen zu entlarven.
Ich glaube wirklich, dass wir sehr vorsichtig sein müssen; diese ganzen Fake News sind wie Gift und bringen alles durcheinander. Mich auch. Es ist eine tägliche Gratwanderung, wem man Glauben schenken kann und wem nicht – und die manipulative Kommunikation unseres Bundeskanzlers macht die Sache nicht einfacher. Natürlich spielt der sein eigenes Spiel, hält Informationen zurück und sperrt seriöse Medienvertreter von Pressekonferenzen und -förderungen aus.
Meine Überzeugung, dass eine Weltverschwörung nicht möglich sein kann, basiert auf einer einfachen Annahme – die Angehörigen dieser dunklen Mächte müssten sich auf ein gemeinsames Ziel einigen und dann zusammenarbeiten. Das können die aber nicht. Gemeinsame Ziele über den eigenen Tellerrand hinaus sind eher Sache der Leute, die sich selbst nicht so wichtig nehmen.
Guterres spricht alles an, was ich mir von seiner Position wünsche, und er lässt es nicht an Klarheit mangeln: „Die Ungleichheiten und Lücken im sozialen Netz, die auf so schmerzhafte Weise entstanden sind, müssen beseitigt werden. Wir sollten auch die Möglichkeit nutzen, Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter in den Vordergrund zu stellen, um die Widerstandsfähigkeit gegen künftige Schocks zu stärken. Der Aufschwung muss auch mit Klimaschutzmaßnahmen Hand in Hand gehen.“
Ich finde, es lohnt sich zu lesen, und es bestärkt mich in meiner Hoffnung, dass der ungehobelte Kerl, der im österreichischen Nationalrat vorwiegend auf seinem Handy spielt, bald Geschichte sein wird. Er vertritt eine Welt, die nicht mehr unserer Zeit entspricht. Dazu gibt es ein erfrischendes Statement im Standard mit dem Titel „Das Drama des begabten Kanzlers“.
Dienstag 26. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 17 aktuell Erkrankte
40 Millionen Fachkräfte aus weltweiten Gesundheitsorganisationen, repräsentiert von 350 Institutionen, verfassten einen Brief an die globale Führungsriege und deren Gesundheitsberater*innen. Sie fordern einen umweltverträglichen Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie. Sieben Millionen Todesfälle jährlich lassen sich beispielsweise auf Luftverschmutzung zurückführen. Sie verlangen die Einbeziehung führender Wissenschaftler*innen und Gesundheitsexpert*innen, um die Entscheidungen über die Zukunft zu treffen.
Solche Nachrichten sind deswegen wunderbar, weil die Adressaten eine solche Anzahl systemrelevanter Fachkräfte nicht ignorieren können. Sie werden es versuchen, aber es handelt sich laut Guardian um etwa die Hälfte aller medizinischen und pflegerischen Fachkräfte der Welt. Die Medien werden nichts oder nur wenig darüber schreiben und wir werden es wieder vergessen. Trotzdem. Wenn solche Kräfte sich zusammentun, dann höre ich das Donnergrollen einer Lawine, die sich endlich in Bewegung setzt – und vielleicht tatsächlich am Ende etwas zum Positiven verändert.
Heute habe ich eine 24-Stunden-Betreuerin aus Tschechien interviewt. Seit elf Wochen ist sie jetzt in Vorarlberg, Ende der Woche fährt sie nach Hause, ins Ungewisse. Über die Grenze wird sie zu Fuß gehen müssen. Niemand kann ihr sagen, ob sie im Anschluss in Quarantäne muss und ob die Grenzen wieder offen sind, wenn ihr nächster Turnus beginnt. Sie erzählte mir nach dem Interview von ihrer Jugend, als die Mauer noch unüberwindbar war. Niemand ahnte damals, dass sie binnen weniger Jahre alles verlieren könnten, was sie für selbstverständlich hielten. Jeder war versorgt, die Landwirtschaft autonom, die Infrastruktur bis in das letzte Dorf intakt, Kinder und alte Menschen waren gut betreut. Niemand musste ums Überleben kämpfen. „Jetzt ist alles ausgehöhlt.“, sagt sie. „Das Wasser haben die Franzosen gekauft, die Felder sind zerstört, unsere Autonomie ist Geschichte. Es gibt keine Busse mehr auf dem Land, die alten Leute hungern, mit normaler Arbeit verdient man nicht genug, um die Kinder studieren zu lassen.“
Wir teilen die Einschätzung, dass alles im Überfluss vorhanden wäre – sie hat es damals so erlebt, und ich auch, in meiner Jugend. Wir sind so etwas wie Zeitzeugen einer Welt, die bereits vergangen ist.
Montag 25. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 16 aktuell Erkrankte
Mahnwache von 1:55 bis 2:25 Uhr nachts. Die Nacht hebt ein wenig die Schwerkraft auf, zumindest für Menschen wie mich. Ich liebe die Nacht mehr als den Tag, bin dann ein bisschen unsichtbarer, und alles ist still. Die Welt ist weniger fordernd und nicht so aufdringlich. Ich stehe, wir stehen zu zweit, schweigend, vor uns eine Feuerschale; das Kopfsteinpflaster ist bedeckt mit beschrifteten Tellern und Karten, die Gemeindenamen tragen. Ich trage Bilder mit mir herum, von Menschen in griechischen Lagern, in lybischen Lagern, von überfüllten Rettungsschiffen, von aggressiven Manövern gegen wehrlose Schlauchboote auf dem offenen Meer. Sie sind stumm, steigen aus der Erinnerung auf und ziehen weiter. Zum Glück sind sie leise und haben keinen Geruch. Ich stehe gerne vor dem Eingangsportal unserer Landesregierung für die Anliegen der Organisator*innen, am liebsten möchte ich die Bilder dort niederlegen und ohne sie nach Hause gehen. Ich bin dankbar für Menschen, die solche leisen Kundgebungen organisieren, die einstehen für Menschlichkeit. Die Zeit steht auch ein bisschen still.
Die Zahl der Infektionen steht ebenfalls still. Dafür ist die große Weltmaschine wieder angelaufen, der Verkehr ist wieder da, die Menschen sind unterwegs, die Kinder im Bus, in der Schule – alles ist fast wieder beim Alten. Am Abend sitze ich einem Mann gegenüber, der mir seine Weltsicht erklärt. Seine Welt wird gezielt von Flüchtlingen überflutet, die Frauen vergewaltigen. In meiner sterben Menschen auf der Flucht, beim Versuch ihren Kindern eine gute Zukunft zu bieten. Seine Welt ist von Zwangsimpfungen und Bargeldabschaffung bedroht. In meiner sind wir gerade glimpflich davongekommen. So viele Welten haben nebeneinander und sogar ineinander Platz und gleichzeitig ist Wertschätzung möglich. Uns verbindet (das nehme ich an) der ähnliche Wunsch nach einem Leben, das nicht andauernd dem Chaos ausgeliefert ist.
„Glaube nicht alles, was du denkst“ einer dieser Kalendersprüche, den ich immer noch liebe.
Die Idee eines Gartens nimmt ganz langsam Gestalt an. Ein Versuch, dem Chaos zu entkommen. Wenn ich die Idee genauer betrachte, bleibe ich immer bei der Erde hängen. Ich fürchte, mich interessiert der Gemüseanbau weit weniger, als dass öde Ackerflächen wieder lebendig werden. Vielleicht reicht es ja, wenn ich einen großen Komposthaufen anlege …
Sonntag 24. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 16 aktuell Erkrankte
Eine Mahnwache für Menschen auf der Flucht beginnt heute um fünf vor zwölf vor dem Landhaus, die Organisatoren sind das Team Oberland der Sonntagsdemos. Sie endet am Montag um fünf vor zwölf, ich werde heute Nacht von 1:55 Uhr für eine halbe Stunde Wache halten. Fünf vor zwölf ist es schon so lange für Menschen in den Lagern an den Grenzen der EU, und leider hat sich die Situation für Asylwerber*innen in Österreich auch unter Türkis-Grün keineswegs verbessert. Das ist ebenso traurig wie beschämend – ich hätte nie erwartet, dass ausgerechnet Europa seine Verantwortung gegenüber Kriegsflüchtlingen dermaßen schäbig von sich weisen würde. Nie. Menschen auf der Flucht vor Krieg brauchen Schutz, Punkt.
Und trotzdem bin ich nicht der Meinung, dass gleichzeitig zahlreiche junge afrikanische Männer und Frauen in Europa ihr Glück suchen sollen – außer sie werden in ihrer Heimat bedroht und finden kein sicheres Nachbarland. Ich denke, es wäre gut, wenn junge Leute in ihren Heimatländern eine neue Zukunft mitgestalten. Dazu brauchen sie aber auch eine Chance und deshalb ist es an der Zeit für internationale Beziehungen auf Augenhöhe.
Interessant ist auch, dass kaum ein Medium darüber berichtet, wie erfolgreich afrikanische Länder mit der Pandemie umgehen. Die prognostizierte Katastrophe unzähliger Todesopfer ist nicht nur ausgeblieben, es sind darüber hinaus bemerkenswerte und vor allem günstige Testverfahren entwickelt worden – und in der westlichen Welt interessiert das kaum jemanden. Senegal verzeichnet bei 16 Millionen Einwohner*innen etwa 30 Tote, Ghana hat eine ähnlich verschwindend geringe Todesrate bei 30 Millionen Einwohner*innen. Die senegalesischen Testkits sollen für 1 Euro zu haben sein, in London erhält die Autorin des Artikels ein Angebot für ein privates Testset um satte 250 Pfund. Die Zeitschrift „Die Zeit“ nimmt weitere Länder unter die Lupe und berichtet statt von apokalyptischen Corona-Todesraten eher von wachsenden Hungerkrisen und Versorgungslücken wie etwa in Südafrika: „In Kapstadt beispielsweise kocht das Team des neu gegründeten "Food Response Collective" anstatt Bier täglich 7.000 Liter Gemüsesuppe in den riesigen Braukesseln der Woodstock Brewery.“
Solidarität ist ein weltweites Phänomen, und sie wäre bei einigem Wohlstand die stabilste Form der internationalen Sicherheit.
Stattdessen erlauben wir beispielsweise einer Stiftung wie der Gates Foundation (es ist kein Geheimnis, dass ich Bill Gates nicht mag) mit einem Stiftungskapital von 42 Milliarden US-Dollar, dass jährlich drei Milliarden Dollar in globale Entwicklungsprojekte investiert werden – auf den ersten Blick ist es relativ schwer, das zu kritisieren. Aber offensichtlich verhindert diese einflussreiche Institution Ansätze zur Lösung der weltweit größten Probleme der Gesundheitsversorgung: „Bis vor kurzem war Gates nicht einmal ein Befürworter des in der Alma-Ata-Erklärung von 1978 formulierten Ziels, dass primäre Gesundheitssysteme gestärkt und eine universelle Krankenversicherung eingeführt werden solle“, so ist in dem Artikel „Der Siegeszug der Wohltätigkeit“ zu lesen. Und: „Zusammen mit der Bemerkung, dass Stiftungen ‚von Natur aus plutokratisch‘ sind, stellt der Stanforder Politikwissenschaftler Rob Reich eine wichtige Frage: Sind zur Rechenschaft verpflichtete wohltätige Organisationen wie die Gates Foundation kompatibel mit der Demokratie?“
Ich finde, der Artikel ist lesenswert und weist auch auf das Grundproblem des afrikanischen Kontinents hin, der seit der Kolonisierung nicht mehr den Fängen grauslicher Machenschaften und netter Wohltätigkeit entkommt.
Samstag 23. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 16 aktuell Erkrankte
Mein Sohn kommt von einer Geburtstagsparty mit Übernachtung nach Hause. Und wieder einmal sind wir mit demselben Problem konfrontiert. Sein Freund, der seinen 13. Geburtstag feierte, darf offensichtlich unbeaufsichtigt GTA 5 spielen – ein Spiel das ab 18 Jahren zugelassen ist. Ruben hat Spiele zur Verfügung, die seinem Alter gerecht sind, und auch die sind ausgewählt, viele finde ich mehr als grenzwertig. Bei GTA 5 steigt man ins Spiel mit einem bewaffneten Banküberfall ein, damit man überhaupt Geld hat für Munition etc. ... Die grafische Darstellung ist bemerkenswert gut, was den Reiz dieses Spiels steigert – und die Abstraktion praktisch aufhebt. Teil des Spiels ist es auch „bitches zu ficken“ und andere wertvolle Aktivitäten. Ich bin ratlos, wie wir damit umgehen sollen. Ist es wirklich nicht mehr möglich, sein Kind vor einer Verrohung zu schützen, die stillschweigend und täglich im Internet geschieht? Oder gibt es nur mehr die eine Möglichkeit, Ruben nicht mehr zu seinem Freund gehen zu lassen, um ihn davon abzuschirmen? Diverse Gespräche mit den eigentlich zuständigen Eltern bringen nichts, und ich mag nicht mehr diejenige sein, die naiv eine altersgerechte Geburtstagsfeier einfordert. Für Ruben ist es peinlich, und ich bin es leid, mir immer anzuhören, dass ihre Kinder eigentlich NIE zocken und wenn dann nur ganz harmlose Spiele ... Ich denke, die meisten Eltern wollen gar nicht mehr wissen, was die Kids herunterladen. Ich bin vor allem traurig. Jeder Schritt, den wir machen können, führt ins Nichts. Ich will nicht, dass ein 13-jähriges, feinfühliges Kind solchen Müll in sein Gehirn geladen bekommt. Ich verstehe gut, dass alles, was wir verbieten, faszinierend ist. Und dass er dabei Sprache und Bilder inhaliert, die in unserem Denken und in unserem Umgang miteinander gar keinen Platz haben, weiß er selbst auch. Es ist eben „nur“ ein Spiel. In Amerika kannst du einen Take-away-Laden verklagen, weil der Kaffee zu heiß serviert wird, aber gegen den Angriff auf die psychische Integrität der Kinder kann ich nicht klagen. Obwohl – einen Versuch wäre es eigentlich wert.
Hab ich schon erwähnt, dass es in den USA derzeit keine Amokläufe gibt? Ich fürchte, das ändert sich sobald die Schulen wieder öffnen und ein oder zwei Jugendliche ihr während des Shutdowns trainiertes Kriegshandwerk in die Tat umsetzen. Angesichts der drohenden Jugendarbeitslosigkeit weltweit eine realistische Gefahr.
Ein anderer Amokläufer steht an der Spitze der US-Regierung – sein neuester Einfall ist es, Atomtests zu starten, um China und Russland einzuschüchtern. Manchmal möchte man einfach schreien.
Ich freue mich über ein (spätes) Zeichen der Solidarität mit der zurückgetretenen Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek. 80 Frauen haben einen Brief unterzeichnet, der nicht nur auf ihre langjährigen Leistungen eingeht, sondern auch auf die strukturellen Hürden, die sie nicht alleine zu verantworten hatte. Es ist jetzt egal, ich fand sie an dieser Stelle auch schlecht besetzt, aber dass es endlich mal eine offen kommunizierte Solidarität unter Frauen gibt, das halte ich schon für revolutionär. Darauf trinke ich heute Abend noch ein Glas!
Daraus wird allerdings nichts, denn stattdessen rennen wir am Seeufer durch den Regen und betrachten einen Regenbogen, weil Ruben etwas verloren hat. Die sinnlose Suche beschert uns immerhin einen menschenleeren Strand und einen unglaublichen Sonnenuntergang.
Freitag 22. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 18 aktuell Erkrankte
Traumhafte Tage, der Wald begleitet mich nach wie vor und bietet Schattenräume, Stilleinseln und Lichtschirme. Ich bin im Wald, weil zu Hause auf meinem Schreibtisch ein unvollendetes Manuskript liegt. Es sollte jetzt, während meiner Auszeit in Venedig, weitergeschrieben werden. In Bregenz ist das schwieriger für mich, zu viele Ablenkungen, zu viele unerledigte Dinge, zu viele Einladungen und zu viele Menschen, die ich schon so lange nicht gesehen habe. Zu viel Staub, zu viel Wäsche, zu viel Alltägliches, zu schön der Wald und die Sunset-Stufen am See. Alleinsein kann zu Beginn hart sein, aber ich bin inzwischen gut darin, vor allem in einer fremden Stadt. Ich liebe es, durch unbekannte Straßen zu gehen, auf Plätzen zu sitzen, den Menschen zuzusehen. Fast alles ist schön, nur das Essen allein mit mir selber ist manchmal schwierig. Essen und ein Glas Wein schmecken in Gesellschaft besser. Aber das Manuskript ... Es hätte vor Jahren fertig sein sollen. Schreiben ist anstrengend.
Weltweit sind derzeit 2,8 Millionen Menschen infiziert, soweit bekannt.
Ich lese wieder in dem wunderbaren Buch von Charles Eisenstein, der Titel lautet schlicht „Klima“. Er stellt so viele zentrale Fragen, und ich bin ihm dankbar dafür, dass er Fragen stellt. „Warum haben wir uns mit einer Welt abgefunden, die jedes Jahr hässlicher und zerstörter wird?“ ist nur eine davon. Es ist ein wirklich erhellendes Buch – ich wünschte, wir würden die Schulen abreißen und mit den Generationen nach uns ausschließlich üben, Fragen zu stellen, anstatt schnelle Antworten zu suchen. Es gilt, die Fragen zu durchleuchten bis auf ihren Grund.
Was tun wir stattdessen, unmittelbar nach diesem globalen Innehalten, in dem auch ein Aufatmen lag? Wir verlangen ausgerechnet von den Kindergartenkindern und den Schüler*innen, dass sie in den Schulen und Kitas Bestimmungen zu 100 % einhalten, die überall auf den Straßen, in den Geschäften und in den Gasthäusern vor ihren Augen missachtet werden. Sie, die am wenigsten gefährdet sind, sollen sich an Regeln halten, zu deren Einhaltung Erwachsene offensichtlich nicht in der Lage sind. Wir muten ihnen wirklich alles zu, auch dass wir sie weiter langweilen mit dem alten Lehrstoff und viel unnützem Wissen, mit dem wir keine neue Wirtschaft und keine innere Haltung finden werden. Mit dem wir keine neue Welt denken können. Eisenstein postuliert eine These, die mich beglückt: „Wir werden dann überleben, wenn es uns gelingt, unser Denken zu ändern.“
So geht das den ganzen Tag, wenn ein Manuskript auf mich wartet, an dem ich arbeiten sollte – Eisenstein zu lesen ist eigentlich wichtiger, zumindest heute.
Donnerstag 21. Mai | 899 Infizierte in Vorarlberg | 18 aktuell Erkrankte
Nachdem die Theater jetzt doch wieder Aufführungen zeigen dürfen, gibt es Anfang Juni einen Spieltermin für mein Stück „Who cares? Welche Krise?“ Leider im großen Haus des Landestheaters, weil dort das Publikum die verordneten Abstände einhalten kann ... Das Stück ist aber für einen kleinen Raum und eine ebenerdige Bühne konzipiert. Ich bin gespannt, wie das gelöst wird. Einerseits freue ich mich, dass es wieder gespielt wird, aber ich frage mich, ob das gut funktioniert? Und sitzen dann die Leute mit Mund-Nasen-Schutz im Zuschauerraum? Das ist alles eine große Herausforderung für die Theaterhäuser – als Alternative zum geschlossenen Raum denke ich schon länger über ein Stationentheater im Freien nach, das durch die Stadt führt. Dafür gibt es bereits wunderbare Beispiele, und diese Form des interaktiven Theaters ist noch lange nicht ausgeschöpft.
Außerdem habe ich das Treatment für den Kurzfilm fertig, für das ich angefragt wurde – dabei soll dieser Ausnahmezustand filmisch aufgearbeitet werden, je eine Episode aus jedem Bundesland wird verfilmt. Hat Spaß gemacht und ging am Ende doch relativ leicht von der Hand. In der Handlung spielt eine Frau mit Demenz eine wesentliche Rolle. Ich denke, bei allem, was wir als Gesellschaft richtig gemacht haben im Umgang mit dem Virus, haben wir doch einige Gruppen so richtig im Stich gelassen. Die Menschen in den Pflegeheimen stehen in meiner Wahrnehmung an erster Stelle, neben den Menschen in den Flüchtlingslagern, die schon vor Corona sich selbst überlassen wurden. Wir sollten noch nachdenken, wie man die Vulnerablen schützen kann, ohne sie durch Isolationsmaßnahmen in die völlige Einsamkeit zu treiben.
Ich freue mich, dass unser Gesundheitsminister Stellung bezieht zum Thema Impfen – während seiner Amtszeit werde es keinen Impfzwang geben, sagt er in den Nachrichten. Jetzt hoffe ich halt, dass er in dieser Aussage nicht gleich widerlegt wird, weil die ÖVP anderer Meinung ist. Sollte es je einen Impfstoff geben, ist das sicher für viele Menschen eine Beruhigung. Ich habe heute von einer Freundin erzählt bekommen, dass sie gefastet hat, während ihr Mann und auch ihr Kind heftig krank waren – sie hat beide versorgt und sich nicht angesteckt. Der Schilderung nach war es eine Covid-19-Infektion, die beiden wurden aber nicht getestet.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Fasten dem Virus die Möglichkeit nimmt, überhaupt anzudocken, ist ziemlich hoch – und das würde ich einer Impfung jederzeit vorziehen. Ich wünsche mir mehr Bewusstsein in der Ernährung, und auch politische Rahmenbedingungen, die das unterstützen. Man könnte zur Abwechslung den Biogemüse-Anbau fördern statt der Massentierhaltung, das würde die Preisgestaltung verändern. Ich glaube, die natürliche Landwirtschaft und mehr vegetarische Kost würden das Ausbrechen solcher Pandemien vielleicht nicht gänzlich verhindern, aber diesen entgegenwirken und uns guttun (vor allem auch den Tieren).
Mittwoch 20. Mai | 897 Infizierte in Vorarlberg | 16 aktuell Erkrankte
Der Rückzug ins Private ist auch ohne Verordnung von oben sehr verlockend. In meinem Bekanntenkreis habe ich oft gehört, wie wohltuend die Ruhe und auch die reduzierten Kontakte waren und dass diese Erkenntnis ihre weitere Planung beeinflussen wird. Ich könnte auch gut auf Nachrichten verzichten. Aber ich habe mir etwas anderes überlegt: Ich will ganz bewusst meinen Blick auf die Kräfte lenken, die Hoffnung auf einen Wandel geben. Dazu gehört sicher das Klimaneutralitätsbündnis 2025, eine Initiative von Vorarlberger Unternehmer*innen, die seit 2013 dafür sorgt, dass auch große, international agierende Unternehmen ihren CO2-Ausstoß reduzieren. Jedes Jahr kommen neue Firmen dazu, die sich auf den Weg machen, unterstützt von dem Know-how derer, die bereits dort angekommen sind. Hier ein Artikel dazu
Die Zahl der reduzierten CO2-Emissionen kann sich sehen lassen. Auch das Unternehmen Julius Blum GmbH gehört zu den Bündnispartnern – kürzlich war die Firma in den Schlagzeilen, weil die Mitarbeiter*innen in Kurzarbeit einen Bonus über 1000 Euro erhalten. Das hat Stil, finde ich.
Immer wieder stoße ich auf die kluge Frau Ardern am anderen Ende der Welt – sie schlägt die 4-Tage-Arbeitswoche als Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit vor. „Letztlich ist das eine Frage zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Aber wir haben viel durch Covid gelernt: Die Flexibilität, wenn Leute von zuhause aus arbeiten und die steigende Produktivität dadurch“, sagt Ardern.
Unsere Bundesregierung hingegen ... Erfrischend stellt Armin Thurnher den österreichischen Umgang mit den wirtschaftlichen Herausforderungen dar, wenn er etwa schreibt: „Es ist gegen dieses Geheimregime, diese Arkanpolitik, wie man früher sagte, also bereits ein Akt der Revolte, Beratungskonzepte offen zur Diskussion zu stellen, wie das Fußi tat. Und wie das Robert Misik tut. Dieser Publizist hielt es nicht mehr aus, dass der sogenannte ‚Wiederaufbau‘ (Vasallenphrase) von Leuten beraten wird, deren ökonomische Kompetenz sich etwas einseitig auf die Seite der Wirtschaft, also der großen Unternehmen neigt, um es dezent zu sagen. Misik stellt ein Gegenkonzept ins Netz, das diskutabel ist und von Experten diskutiert werden sollte. Dass Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer mit seinen Leuten auf dem AK-Blog ebenfalls interessante Konzepte anbietet, oder auch Kurt Bayer in seinem Blog, versteht sich ebenso wie, dass keiner von ihnen und auch nicht Stephan Schulmeister zu den Experten der Regierung zählt.“
Der Falter gehört natürlich ebenfalls zu den Kräften, die mir immer wieder Hoffnung geben.
Dienstag 19. Mai | 896 Infizierte in Vorarlberg | 16 aktuell Erkrankte
Rubens erster Schultag war unspektakulär und der zweite findet erst am kommenden Montag statt. Seine Schilderungen wie man jetzt im Klassenzimmer sitzt, wie man sich zu maskieren hat, sobald man aufsteht ... bis jetzt hatte ich nicht den Eindruck, dass mein Sohn in den letzten Wochen besonders traumatisiert wurde. Aber jetzt, in der Schule, steigen die Chancen auf ein handfestes und bleibend gestörtes Verhältnis zu anderen Menschen doch noch. Das macht mir schon Sorgen, aber mit seinen 13 Jahren wird er das vermutlich gut auf die Reihe bekommen, bei kleineren Kindern bin ich mir nicht sicher.
Ich glaube, ich mag nichts mehr zur Tagespolitik schreiben, das ist alles unerfreulich. Zwischen THC Strache in Wien (Zitat zur Frage nach seinem fehlenden Unrechtsbewusstsein in Ibiza: „Ich habe kein Armutszeugnis abgelegt“), drohenden Ernteausfällen wegen fehlender Billiglohnarbeiter, die in ganz Europa hemmungslos ausgebeutet werden (wann genau wurde die Sklaverei verboten?), und über 1000 Corona-Toten an nur einem Tag in Brasilien muss man schon nach guten Nachrichten suchen. Andrea Mayer als neue Kulturstaatsekretärin ist vielleicht eine davon, allerdings fürchte ich, dass sie gegen dieselbe Betonwand anrennen muss und man so eine weitere fähige Frau nach der anderen verheizt.
Und dann noch der echt skandalöse Rauswurf eines langjährigen ORF-Mitarbeiters der Vorarlberger Kulturabteilung – nach all den anderen Mobbing-Geschichten gegen diese Abteilung leider keine Überraschung.
Ich glaube, mir fehlt heute der Sommerdrink auf der Terrasse, gestern war ich besser gelaunt. Oder ich hätte einfach nicht „Im Zentrum“ schauen dürfen.
Montag 18. Mai | 890 Infizierte in Vorarlberg | 12 aktuell Erkrankte
„Harry’s Bar“ in Venedig wird seine Türen nicht mehr öffnen. Arrigo Cipriani, der Sohn des Gründers Giuseppe Cipriani, schließt das legendäre Lokal nach fast 90 Jahren. In meinem Kalender steht, dass ich jetzt in Venedig wäre und dass Ruben am Mittwoch für das lange Wochenende nachkommen würde. Stattdessen geht er morgen zum ersten Mal nach neun Wochen wieder zur Schule, und ich hoffe sehr, dass es dort ein bisschen mehr Raum gibt für Austausch und Erzählungen als für Schulisches.
Pünktlich dazu erscheint im Standard ein Interview mit Stefan Hopmann, einem Bildungsforscher, dem ich nur zustimmen kann. Vor allem sagt er, dass es absolut nichts bringt, jetzt noch möglichst viel vom Schulstoff durchzubringen, und der wichtigste Satz in diesem Interview steht ganz am Ende: „Wir setzen auf eine Schule, die primär auf Konkurrenz und Wissensvermittlung ausgerichtet ist. Für Krisenzeiten, wo wir Verständigung, Solidarität und Zusammenarbeit brauchen, nicht unbedingt die beste Voraussetzung.“
Das Problem ist aber auch, dass die Lehrer*innen und die Schulleitungen es schon gewohnt sind, dass das Bildungsministerium keinen Plan hat – den gibt es seit vielen Jahren nicht. Deswegen bewegen wir uns bildungstechnisch eher nach rückwärts anstatt nach vorne. Und weil das eh alle wissen und hinnehmen, darf man eben weiter experimentieren mit den Schüler*innen und Lehrer*innen, seit Türkis-Blau aber mit einer feudalistischen Haltung, die Anweisungen von oben nicht scheut. Unsere Ideen zur Bildung beruhen auf Augenhöhe, und sind hier zu finden: https://prim-online.at/. Eine weitere ehrenamtliche Aufgabe in meinem Leben seit über zehn Jahren, die mir sehr wichtig ist.
An dieser Stelle sei doch noch etwas anderes angemerkt – hat irgendjemand von den Herrschaften im Bildungsministerium sich mal dazu herabgelassen, den Eltern zu danken für das, was sie an Schulunterricht geleistet haben? Vielleicht habe ich das ja zufällig verpasst, aber auch die Schulleitungen danken in ihren netten Informationsschreiben den Lehrer*innen und den Schüler*innen für ihr Engagement ... aber eines ist klar: Ohne die Heerscharen von Müttern und Vätern wäre das Homeschooling schon in der ersten Woche gescheitert. Wertschätzung ist eine nicht zu unterschätzende Währung.
Eine meiner Freundinnen sagte kürzlich, sie werde jetzt dem Bildungsministerium eine Rechnung für die vergangenen zwei Monate schicken, den Stundenaufwand hätte sie nämlich dokumentiert. Diese Idee finde ich umwerfend – blöd, dass wir nicht darauf gekommen sind mitzuschreiben, schon alleine für unsere persönliche Erinnerung. Nicht dass wir uns später mal einbilden, wir wären in der Zeit des Shutdown nur im Wald spazieren gegangen und hätten uns erholt.
Eine Entlohnung vom Bildungsministerium würde dann auch in vielen Fällen das totale Versagen der finanziellen Rettungsschirme ausgleichen. Eine bekannte Vorarlbergerin, die seit 29 Jahren in Wien eines der beliebtesten Modegeschäfte führt, bekommt sage und schreibe 81 Euro in zwei Monaten, ungeachtet aller Fixkosten und Mitarbeitergehälter. Das ist schwer nachvollziehbar.
Ich jedenfalls habe heute ganz offiziell meinen persönlichen Sommer eingeläutet, in Gesellschaft einer Freundin und mit Blick auf See und Sonnenuntergang. Wir reden darüber, dass seit der Corona-Krise viele unter 40-Jährige offenbar statistisch auffallend mehr psychische Probleme haben. Und wir befinden, dass es ein Vorteil ist, solche Zeiten mit über 50 zu erleben – es ist nicht unser erster Sturm im Leben und bisher ist immer alles noch irgendwie weitergegangen. Wird es auch diesmal.
Wir stoßen also auf all das Ungewisse an und sitzen am Ende hingerissen von der Schönheit unserer Gegend auf den Sunset-Stufen von Bregenz.
Sonntag 17. Mai | 890 Infizierte in Vorarlberg | 15 aktuell Erkrankte
Leider gehen die Zahlen wieder in die falsche Richtung, wenn auch nur minimal. Wir waren am See, mit dem Rad entlang der Pipeline bis zur alten Fähre, wo wir auf der schönsten Terrasse des gesamten Seeufers einen Kaffee getrunken haben. Abgesehen von den Schutzmasken der Kellner und Plexiglasscheiben vor dem Ausschank kann man kaum feststellen, dass wir immer noch eine Pandemie haben oder ihr kürzlich erst entronnen sind oder wie auch immer das jetzt genannt werden sollte. Und weil wir jetzt endlich wieder Besuch aus der Schweiz haben, fühlt sich alles wieder ein Stück weit normaler an. Die Grenzen sind für Besuche geöffnet und werden nicht mehr kontrolliert, nur noch eine stichprobenartige mobile Kontrolle ist angekündigt. Damit aber die Verwirrung nicht gänzlich aufgehoben ist, heißt es in den Nachrichten gleichzeitig, dass man bei der Rückreise nach Österreich grundsätzlich mit einer 14-tägigen Quarantäne rechnen muss. Außerdem ist ein ärztliches Gesundheitszeugnis verpflichtend mitzuführen, nicht älter als 4 Tage ... ich darf also ohne Grenzkontrolle nach Deutschland einreisen und soll mich dann aber in Quarantäne begeben? Es macht den Eindruck, als müsste man dem Gesetz Genüge tun und würde gleichzeitig höchst unangenehme Hindernisse erfinden, damit die verfassungsbedingte Reisefreiheit nicht allzu sehr in Anspruch genommen wird. Das ist nicht ganz der Umgang mit mündigen Bürger*innen, wie ich ihn mir wünsche.
Was ich mir aber auch nicht wünsche, sind Demos, wie heute in Bregenz, bei denen für die Einhaltung der Grundrechte auch gegen Impfzwang oder Bargeldabschaffung demonstriert wird. Kein Mensch redet derzeit in Österreich von Bargeldabschaffung, und auch der Impfzwang ist noch lange kein Thema – es gibt ja noch nicht mal einen Impfstoff. Ich bin auf vielen Demos gewesen in den letzten Jahren und ich habe selbst welche mitorganisiert. Ich bin absolut dafür, dass man aufsteht gegen Missstände und für Demokratie.
Aber Dinge, die man fürchtet, vorwegzunehmen, halte ich für eine unkluge Strategie. Ich weiß nicht, ob die Veranstalter*innen diesen Hinweis so an die Medien gegeben haben: „Man erwarte außerdem von allen Demo-Teilnehmern einen friedlichen, respektvollen Umgang und anständiges Auftreten, hieß es im Vorfeld der Veranstaltung.“ Das ist genau diese Haltung, gegen die aufzustehen in der Ausschreibung aufgerufen wurde, nämlich man wolle wie mündige Bürger*innen behandelt werden. Ich brauche keinen Hinweis, dass man von mir erwartet, mich anständig zu benehmen. Kommunikation ist so eine vertrackte Sache ...
Auch die Schubertiade muss den nächsten Konzertzyklus absagen. Das tut mir sehr leid, ich liebe diese Konzerte, auch wenn ich selten in den Genuss komme.
Und der Vatikan zeigt sich aufgeschlossen für zukunftsweisende Ideen, anders als unsere Regierung: „Ein sozialethischer Experte des Vatikans hat sich angesichts weltweiter pandemiebedingter Ausgangssperren für ein Grundeinkommen ausgesprochen.“
Das muss man sich mal vorstellen – wie lange hat die Kirche gebraucht, um zuzugeben, dass die Erde um die Sonne kreist?
Samstag 16. Mai | 888 Infizierte in Vorarlberg | 13 aktuell Erkrankte
„Vielleicht haben Sie davon gehört, dass in Manaus, der Hauptstadt des Amazonas, die Krankheit besonders schrecklich wütet. Es ist keine Zeit mehr für richtige Beerdigungen. Menschen liegen in Massengräbern, Traktoren schütten sie zu. Andere liegen in den Straßen, unbeerdigt wie Antigones Bruder.“ Das sagt Kay Sara, die heute die Wiener Festwochen hätte eröffnen sollen.
Sie ist eine indigene Aktivistin und Schauspielerin, ihre Heimat liegt im Amazonas, wo Menschen wie sie ermordet werden. „Die Weißen nutzen das Chaos, um noch tiefer in die Wälder einzudringen. Die Feuer werden nicht mehr gelöscht. Von wem auch? Wer den Holzfällern in die Hände fällt, wird ermordet. Und was hat Präsident Jair Bolsonaro getan? Das, was er immer getan hat: Er schüttelt die Hände seiner Unterstützer und verspottet die Toten. Er hat seine Mitarbeiter beauftragt, die indigenen Völker zu benachrichtigen, dass eine Krankheit ausgebrochen sei. Das ist ein Aufruf zum Mord an uns. Bolsonaro will den Genozid an den Indigenen, der seit 500 Jahren anhält, zu Ende bringen.“
Die Prognosen für das Ökosystem des Regenwaldes im Amazonas sind nicht gut, und niemand mischt sich ein, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.
Keine Regierungen, die sich zusammentun, um in Brasilien einen Genozid zu verhindern – so wenig wie thematisiert wird, dass die Zukunft der nächsten Generationen auch an diesen Waldflächen hängt. 38 indigene Völker seien inzwischen betroffen, meldete die Vereinigung der Ureinwohner. 440 Ureinwohner seien mit dem Virus angesteckt, 92 gestorben. Mir ist eigentlich den ganzen Tag schlecht deswegen, aber wir sitzen heute endlich auch wieder in einem Café, so wie ich mir das vorgestellt habe. Es tut richtig gut. Ein paar Meter weiter findet ein Markt statt, vom Stadtmarketing veranstaltet. Niemand hält sich an irgendwelche Regeln, als hätte es den ganzen Spuk nie gegeben. Wir lernen nichts.
Den ganzen Nachmittag unterhalten wir uns darüber, dass es einen kollektiven Stress gibt, dem niemand entkommt. Er wirkt tief, wir nennen ihn dann Zivilisationskrankheit, gestauchte Energie in den Körpern der Menschen. Vielleicht ist es das Wissen, dass gerade unsere Lebensgrundlage zerstört wird, während wir mit einem Glas Wein auf dem Markt stehen und unsere alte Normalität feiern. Wir haben keine Antwort auf die Fragen, wie man diesen Stress in eine positiv wirkende Kraft umwandeln kann. Aber im Grunde ist es doch so – jede Form von Energie lässt sich verwandeln. Man muss sich ihr nur zuwenden wollen.
Freitag 15. Mai | 886 Infizierte in Vorarlberg | 11 aktuell Erkrankte
Die Bregenzer Festspiele sind definitiv abgesagt, ein weiteres historisches Ereignis. Das bedeutet, Bregenz bleibt im Sommer weitgehend unter sich, eine traurige Vorstellung. Ich bin immer so froh, wenn der kleine Ort endlich etwas internationaler und lebendiger wird, wegen der Festspiele und anderer Kulturveranstaltungen. Obwohl ich seit Wochen endlich wieder in einem Café sitzen möchte, hatte ich heute den ganzen Tag weder Zeit noch Lust dazu.
Der Rücktritt von Ulrike Lunacek war nicht notwendig, aber nachvollziehbar – er deutet vor allem auf einen üblichen Missstand hin. Es sieht nicht so aus, als gäbe es innerhalb der Grünen Solidarität oder Rückendeckung, ich kann nicht verstehen, warum die Kommunikation mit der Öffentlichkeit dermaßen ungeschickt vonstattengeht. Dass jetzt die Staatssekretärin für Kultur die gesamte Verantwortung auf sich nimmt, ist irgendwie unpassend. Wenigstens steht ein Zeitplan für die Öffnung der Kulturhäuser mit dem heutigen Tag, schrittweise sind Aufführungen mit wachsender Besucher*innenanzahl ab Ende Mai wieder möglich. Endlich.
Kurz mag vermutlich nicht mehr gern nach Vorarlberg kommen, das geht jetzt schon zum zweiten Mal schief. Sein Bad in der Menge könnte ihn auch Wählerstimmen gekostet haben, solche Bilder wirken nach.
Ich bin intensiv daran, ein Exposé für einen Teil eines österreichischen Episodenfilms zum Thema Corona zu schreiben. Die Idee sieht vor, aus jedem Bundesland eine Kurzgeschichte zu verfilmen, eine Anfrage einer jungen Produktionsfirma, die mich sehr freut. Allerdings merke ich, dass ich zu wenig Abstand zu dem Thema schaffen kann, diese seltsame Zeit ist keineswegs vorbei. Es ist immer wieder ein Kampf von Nähe und Distanz, und wenn daraus dann ein klarer, guter Blick auf die Dinge entsteht, dann ist der Kampf vorbei und ein Satz gibt den nächsten. Dort bin ich aber noch nicht.
Zum Schreiben gehört auch ein Link zum „Original“, ein Magazin, das ich sehr schätze und das jetzt auch online eine Plattform für Redakteur*innen bietet. Im Original meldet sich eine wachsende Zahl von Autor*innen mit kleinen Statements zu Wort, ich darf mit von der Partie sein.
Im Falter ist ein Kommentar von profil-Redakteur Ernst Schmiederer zu lesen, den ich gerne teile, weil er vieles auf den Punkt bringt. Vor allem beklagt er das Fehlen von innovativen Ideen und Konzepten, die auch die gesellschaftlichen Folgen der Krise miteinbeziehen – das halte ich für sehr wichtig.
Er zitiert darin den Grazer Public-Health-Experten Martin Sprenger, der dem Expertenbeirat der Corona-Taskforce angehörte und diesen verlassen hat: „Ich fordere ab sofort auch Dashboards, die uns tagtäglich vor Augen führen, was wir unseren Kindern, unseren älteren Menschen antun, gesundheitlich, psychisch und sozial. Ich hätte gerne Dashboards für alle Arbeitslosen, zerstörten Familienunternehmen und Existenzen, Privatkonkurse und familiären Katastrophen. Natürlich bräuchte es auch Dashboards für die positiven Effekte dieser Pandemie. Das große Engagement der Zivilgesellschaft, die vielen Heinzelfrauen und auch Heinzelmännchen, die unsere Gesellschaft am Laufen halten.“
Das wäre tatsächlich sehr erhellend – warum macht das niemand in der Regierung? Die Daten liegen ja wohl vor. Ich fürchte, die echte, die soziale Krise beginnt erst ...
Donnerstag 14. Mai | 886 Infizierte in Vorarlberg | 11 aktuell Erkrankte
Morgen öffnen die Lokale wieder, die Breaking News des Abends sind, dass jetzt bald auch die Theater wieder öffnen sollen. Ich finde ja vieles ziemlich ungeheuerlich, aber der Umgang mit Kultur in Österreich steht weit oben: Neben Kunst, Musik, Literatur und Theater hat Österreich nicht viele Bodenschätze, auf die wir bauen könnten. Dieses langanhaltende Desinteresse an einem Plan für die Öffnung der Konzert- und Theaterhäuser ist fahrlässig, immerhin kommen damit Milliarden ins Land. Bin gespannt, welchen Zeitplan die Regierung in den nächsten Tagen vorlegen wird.
Hanno Settele auf den Spuren von Fake News, „Glauben statt Wissen“ ist sehenswert, finde ich. Ein interessanter Blick in die Echokammern der neuen Medien und Einblicke in die Arbeit eines Bildforensikers und anderer Expert*innen. Minute 29 zeigt die absurde Geschichte auf, wie ein übertrieben satirisches Posting enorme Reichweite entfalten kann: Es wurde 100 Millionen Mal geteilt! Unter dem Posting stand deutlich, dass es sich um keine wahre Geschichte handelt. Die Leute teilen das, was sie glauben (wollen). Ich nehme mich da nicht aus, seit ich einen Facebook-Account besitze, habe ich allerdings einiges über Quellenrecherche dazugelernt, auch dank der berechtigten Rüffel von besser informierten Freund*innen.
Es ist leider wirklich sehr schwierig, zwischen all diesen Informationsfluten zu balancieren, wenn es wie in den letzten Wochen deutlich wird, dass nur noch bestimmte Nachrichten in den offiziellen Medien veröffentlicht werden. Am Ende der Doku sind Beispiele aus den Deepfake-Studios zu sehen – die Zeit, als man noch glauben konnte, was man mit eigenen Augen gesehen hat, ist vorbei. Es wird in Zukunft noch einmal viel schwieriger werden, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.
Noch ein Zusatz zu meinem Ausflug ins Nomadentum von gestern: Seuchen kommen bei Nomaden nicht vor. Diese Krankheiten entstanden erst mit dem Sesshaftwerden. Übertragbare Krankheiten tauchten erstmals in den Siedlungen im späten Neolithikum auf, so James C. Scott, Professor für Politikwissenschaft an der Yale University in New Haven, Connecticut, in einem lesenswerten Interview. Seine Antworten sind voller kluger Beobachtungen, etwa auch, dass Nationalstaaten eine Katastrophe für Sprachen, Lebensweisen, Traditionen, literarische Schöpfungen, Mythen und Legenden sind. Sie vernichten eine kulturelle Form von Biodiversität.
„Jedes Mal, wenn wir eine Sprache und eine Volkskultur verlieren, verlieren wir eine andere Art, die Welt zu sehen, ein anderes Empfindungsvermögen, eine Poesie, andere Einsichten. Das ist ein enormer Verlust für die ganze Menschheit. Ich denke, die internationale Staatengemeinschaft müsste eine Form von politischer Autonomie konzipieren für solche Volksgruppen – jenseits von nationaler Souveränität.“
Mittwoch 13. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 10 aktuell Erkrankte
Ein von mir sehr geschätzter Kollege antwortete kürzlich auf die Frage, wie er sein neues Leben seit der Pension gestalte: „Zunächst einmal brauche ich für die ganz alltäglichen Dinge schon mal ein Drittel länger, einfach, weil ich alles in Ruhe erledigen kann.“ Den Rest des Tages füllt er ebenfalls mit Leichtigkeit und Freude, um ihn mache ich mir keine Gedanken.
Alles in Ruhe kann ich auch – im Grunde sind alle Termine außer Haus vor 10:00 Uhr mit Hetzerei verbunden. Diese verdirbt uns ziemlich sicher ganz schön viel Lebensqualität, und wir trainieren schon dauernd die nächsten Generationen darin. Durch den so frühen Schulbeginn und durch das Zuviel an Lernstoff. Immer alles zu schnell und zu viel.
Was mich wirklich fast vom Stuhl geworfen hat, war die kleine Perspektivenänderung (eine von vielen) im Buch von Yuval Noah Harari mit dem Titel „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Er definiert darin als erfolgreichste Spezies im Wettrennen um möglichst erfolgreiche Ausbreitung: den Weizen.
Der Weizen hat den Menschen domestiziert – davor war der Mensch etwa 190.000 Jahre lang frei, führte ein nomadisches Leben und war als Jäger und Sammler in etwa zwei bis drei Stunden fertig mit der täglichen Arbeit. Mit dem Ackerbau fing das Unglück an, ewig lange Arbeitszeiten, jeden Tag dieselbe Routine – bedrohliche Rückschläge und Hunger, eintöniges Essen, Krankheiten und Seuchen, Besitzdenken, Konkurrenz ... halt eben derselbe Stress wie wir ihn heute kennen. Dafür hat der Weizen sich ausgebreitet wie keine andere Lebensform – mit Hilfe des Menschen. Ein blöder Fehler.
„Nicht wir haben Geheimnisse, die Geheimnisse haben uns“, schrieb C.G. Jung.
Was wäre, wenn wir wieder zu einem nomadischen Leben zurückkehren würden? Vielleicht begann die Unterdrückung der Frauen wie auch der Hass auf alles Fremde damit, dass die Menschheit sesshaft geworden ist, dass Besitzdenken irgendwann auf einfach alles übergreifen muss. Das geht soweit, dass heute sogar Patente vergeben werden auf Pflanzen, die seit Jahrtausenden wachsen. Das ist nichts anderes als pervers. Ein modernes Nomadentum wäre eine interessante Idee ...
Dieser Titel von Harari gehört zu den drei Büchern, die ich mit auf die berühmte Insel nehmen würde, neben „Die Kraft der Mythen“ von Joseph Campbell und Bill Moyers. Beim dritten Buch würde ich so lange überlegen müssen, dass ich die Abreise auf die Insel vermutlich verpassen würde.
Schüsse auf Migranten an Grenzzäunen sind nur in einer Welt denkbar, die dem Weizen verfallen ist.
Dass jetzt die Herren Kurz, Wallner und Haid (Mittelberger Bürgermeister) gänzlich ohne Abstand und natürlich ohne Mundschutz im Kleinwalsertal in der Menge herumstehen, ist eine Sache – ich halte das für respektlos, während andere dafür 500 Euro Strafe bezahlen, wenn sie dasselbe, bzw. weit harmloseres tun. Aber eine Gemeinde, die im Jahre 2020 zur „Beflaggung der Häuserfassaden und zu Bekundungen entlang der Walserstraße“ aufruft – das ist mehr als skurril. Natürlich ist Kurz dort zur Stelle, wo die erste Grenze geöffnet wird ... Medienwirksamkeit kostet, und es war zu lesen, dass er erst letzte Woche sein Budget für Öffentlichkeitsarbeit neuerlich aufgestockt hat. Man muss schon Prioritäten setzen in Zeiten wie diesen.
Dienstag 12. Mai | 886 Infizierte in Vorarlberg | 20 aktuell Erkrankte
Eine Neuinfektion in Vorarlberg, 48 in ganz Österreich – insgesamt sind es noch 1123 Erkrankte. Mitte Juni soll die Grenze zu Deutschland wieder ganz geöffnet werden, schon ab Montag wird es Lockerungen geben. Ich kann es kaum erwarten, diese geschlossenen Grenzen nehmen beträchtlichen Einfluss auf mein Weltgefühl. Zum Glück drängt unsere Landesregierung auch auf die Öffnung, das könnte die Sache noch beschleunigen.
Am Samstag sollte ich eigentlich zu einem zweiwöchigen Aufenthalt nach Venedig aufbrechen – zum Schreiben eines Manuskripts, das schon ewig darauf wartet, dass ich Zeit habe. Eine Reise nach Italien wird wohl länger nicht möglich sein, jedenfalls wird sich bis Samstag keine Grenze mehr öffnen, mein Aufenthalt ist bereits auf 2021 verschoben. Das waren die zwei Wochen, auf die ich mich wirklich sehr gefreut habe. Wenn es möglich wäre, würde ich die Gelegenheit, Venedig ganz ohne Touristen zu erleben, auf keinen Fall verpassen wollen.
Ruben hat alle seine Schulaufgaben erledigt und deshalb frei. Dafür schrauben die Männer jetzt am Motorrad herum und setzen es wieder instand. Bei diesem Unterfangen bin ich allerdings ziemlich skeptisch, mein Kind auf dem Rücksitz eines Motorrades gehört nicht zu meinen bevorzugten Vorstellungen. Am liebsten würde ich, statt nach Venedig, mit ihm nach Wien fahren, aber Wien ohne Museen und Gastronomie … das lassen wir besser.
Durch das tägliche Tagebuchschreiben ist mir wieder klar geworden, dass es an meiner Disziplin hängt. Seit dem 11. März sitze ich täglich etwa eine Stunde an diesen Texten, manchmal länger. So kommt trotz meiner vielen Jobs auch ein Manuskript zusammen, ein entscheidender Faktor dabei ist allerdings, dass jeden Morgen die kluge Lektorin des vorarlberg museums darauf wartet. Ich muss vielleicht jemanden engagieren, der mir täglich einen Abgabetermin setzt, dann brauche ich womöglich gar keine Auszeit zum Schreiben. Venedig ist auch schön ohne Schreibarbeit.
Ja, ich weiß – Bregenz ist auch schön. Traurig bin ich trotzdem.
Montag 11. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 23 aktuell Erkrankte
Thailand, Kambodscha, Laos, Vietnam und Taiwan: Sie alle haben 0 bis maximal 10 Tote und verschwindend niedrige Zahlen an Infizierten zu verzeichnen. In Vietnam waren die Maßnahmen schnell, effizient und schon wieder vorbei, bevor es zu größerem Schaden kam. Ein Bekannter, der in der Hauptstadt lebt, meint dazu, dass, wenn aus China auch nur der leiseste Hinweis kommt, dass eventuell etwas Ungewöhnliches im Gange sein könnte, in benachbarten Ländern alle Alarmanlagen auf dunkelrot stehen. Man weiß aus Erfahrung, dass solche Hinweise ernst zu nehmen sind und dass China erst dann etwas zugibt, wenn es sich wirklich nicht mehr vertuschen lässt. In Vietnam leben geschätzte 90 Millionen Einwohner*innen, die Anzahl der Infizierten liegt unter denen Vorarlbergs, keine Todesfälle.
Ein Interview mit Audrey Tang, der taiwanesischen Ministerin für Digitalisierung, macht deutlich, wie fortschrittlich und demokratisch das Land ist – da sieht es in Europa vergleichsweise traurig aus. Die Erfolge im Umgang mit dem Virus sind bemerkenswert, bei 24 Millionen Einwohner*innen verzeichnet auch Taiwan nur wenige hundert Infektionen, aber ganz ohne Shutdown. In dem Interview entdecke ich eine Haltung, die ich in Österreich schmerzlich vermisse: „Wenn man Maßnahmen autoritär durchsetzt, ohne zu erklären, warum, verstehen die Menschen das nicht und verbreiten Verschwörungstheorien.“
Verschwörungstheorien blühen in Österreich wie in ganz Europa und ich fürchte mich angesichts mancher Aussagen von Demo-Teilnehmer*innen in Deutschland, der Schweiz und auch zuletzt in Bregenz. Die Emotionalität und die Irrationalität, die dabei zu Tage treten, sind leichte Beute für populistische Kräfte – man muss nur mitschreiben, die Headlines für die nächste Wahlwerbung kommen direkt vom Platz. Ich habe Angst davor, dass rechte Politikerkreise zu gegebener Zeit nur noch die Früchte ernten müssen, sobald das Ausmaß der nicht gehaltenen Versprechungen deutlich wird. Schon jetzt stehen so viele Menschen finanziell vor dem Ruin und dabei haben noch nicht mal ein Zehntel der Antragssteller*innen für den Härtefallfonds die wenig charmante Absage per Email erhalten – das werden aber noch lange nicht alle sein, die gar nichts bekommen. Ich durfte gerade heute eine mitlesen.
Ebenfalls ist im Interview mit der hochbegabten Transgenderfrau Audrey Tang (sie besitzt einen IQ von 160 und verließ als Kind die Schule, um sich selbst zu unterrichten) zu lesen: Die Hotline des Zentrums für Seuchenbekämpfung fragt die Anrufer*innen, ob sie Ideen oder Vorschläge haben. „Da war zum Beispiel ein kleiner Junge, der sich beschwerte, dass er in der Schule schikaniert wurde, weil er eine medizinische Maske in Rosa trug. An der nächsten Pressekonferenz trugen Taiwans Gesundheitsminister und sein Stab rosafarbene Masken.“
So geht Politik. Interessante Idee, dass es einmal attraktiv werden könnte, in ein Land wie Taiwan auszuwandern.
Und Vorarlberg? In Bregenz sind seit heute die Litfaßsäulen wieder beklebt, habe sie gerade noch nackt erwischt.
Es mehren sich die Stimmen für Erbschaftssteuer und Grenzöffnungen, für regionale Produkte und Arbeitsmarktoffensiven, für Klimaschutz, sogar die Kälbertransporte sollen reduziert werden. Verboten wäre besser. Ich warte noch auf einen klugen Rettungsschirm für Kulturschaffende, vielleicht muss Vorarlberg da auch seinen eigenen Weg gehen. Auf die Bundesregierung müssen wir wohl nicht warten.
Heute bin ich mit meinem Sohn durch die Wohnung getanzt, weil er sich so herzerwärmend mit mir freuen kann: Mein Stück „Who cares? Welche Krise?“ steht im Vorarlberger Landestheater auf dem Herbstprogramm – eine Wiederaufnahme, die mich glücklich macht. Falls sich jemand dafür interessiert, hier
ist eine wunderbare Rezension von Dagmar Ullmann-Bautz, die eine sehr gute Zusammenfassung bietet. Auch diese macht mich übrigens ziemlich glücklich.
Sonntag 10. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 26 aktuell Erkrankte
Ausflug zur Burgruine Hohenems, ein Ort, der meine Kindheit mitgeprägt hat. Mein Sohn ist weniger beeindruckt, klettert aber mit seiner Freundin auf der Ruine herum. Auf dem Rückweg bringe ich der alten Dame einen Kuchen vom Schloßcafé ins Pflegeheim – dort kann man sich inzwischen für einen Besuch anmelden und sich dann vom Fenster in den Garten – die Hausmauer dient als Barriere – unterhalten. Da ich keinen Termin habe, dürfen wir auch nicht reden. Ich gebe also den Kuchen in die Hände einer freundlichen Pflegerin und verspreche, mich beim nächsten Mal besser zu informieren. Später telefoniere ich mit ihr und sie versichert mir, dass sie in der ganzen Situation noch immer Geduld hat. Sie sagt auch, dass sie den ganzen Tag im Zimmer sitzt, bis auf eine Stunde im Garten. Und dass sie demnächst einen Spaziergang machen will, egal, was irgendwer davon hält.
Der Film, der mir die größte Hoffnung gemacht hat, ist eine Biografie über den Fotografen Sebastião Salgado, „Das Salz der Erde“. Er zeigt, wie Regeneration nach einem desaströsen Kahlschlag möglich ist, auf der psychischen wie auch auf der ökologischen Ebene, und dass diese beiden Faktoren einander unterstützen. Nachdem der Kriegsreporter jahrzehntelang Gräuel, Genozide und Verheerung am Menschen und an der Natur mit seiner Kamera dokumentiert hat, war er einfach am Ende – depressiv und arbeitsunfähig. Seine Frau nahm ihn an der Hand und begann, mit ihm gemeinsam Bäume zu pflanzen, auf der ehemaligen Farm seines Vaters in Brasilien. Zerstörtes Land, erodiert durch Abholzung und im Begriff, Wüste zu werden. Was geschah, als die beiden mit dem Bäumepflanzen begannen, muss man selbst gesehen haben. Seit diesem Film glaube ich wieder, dass alles möglich ist.
Und diese beiden, Sebastião und Lélia Wanick Salgado, richten jetzt einen Appell an Präsident Jair Bolsonaro, um die illegale Abholzung zu stoppen, die seit der Pandemie unter erhöhtem Druck vorangetrieben wird.
Nicht nur, dass der Regenwald verschwindet, wegen dem Vordringen der Minenarbeiter droht die Auslöschung der lokalen indigenen Bevölkerung durch Infektion, Vertreibung und Mord. Diese hat keine Chance, eine Virusinfektion behandeln zu lassen, erste Ansteckungsfälle sind bereits bekannt. Dass Menschen wie Herr Bolsonara über Schätze wie den Regenwald am Amazonas verfügen können, ist schwer zu verdauen. Schon 2021 soll der kritische Punkt erreicht werden, an dem der Amazonas-Regenwald als verloren gilt. Tragisch ist, dass die Rechnung dieser Herren nicht aufgehen kann – weniger Wald bedeutet weniger Regen, bedeutet weniger Ertrag auf den gerodeten Ackerflächen, bedeutet auf lange Sicht eine vollkommen zerstörte Agrarwirtschaft.
Mich reizen diese nackten Litfaßsäulen schon seit Wochen, jedes Mal denke ich kurz darüber nach, was man derzeit alles darauf abbilden könnte – und gleich darauf sehe ich in ihnen ein Mahnmal durch ihre Nacktheit und fände es falsch, diese zu überdecken. Hoffentlich sind sie demnächst wieder voller Ankündigungen von Veranstaltungen, die vor Publikum stattfinden.
Samstag 9. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 26 aktuell Erkrankte
Mir fehlt mal wieder die Eleganz und Großzügigkeit in der österreichischen Handhabung von Herausforderungen.
„Niemand wird zurückgelassen“ und „Koste es, was es wolle“ – so lauteten die großspurigen Versprechungen der Regierung zu Beginn des Shutdown. Ich muss schon sagen, dass ich den Umgang mit den Fördertöpfen als ziemlich skandalös empfinde – das beginnt schon bei der Abwicklung durch die WKO, wo doch die Finanzämter alle Daten bereits haben. Und zwar hoffentlich auch unter Datenschutzbestimmungen sicher verwahrt, was ja bei der WKO offensichtlich nicht der Fall ist.
Jeder Verein, der eine solche Fahrlässigkeit mit sensiblen Daten an den Tag legen würde, wie es hier gerade geschehen ist, müsste mit einer Strafe im fünfstelligen Bereich rechnen. Also wirklich, geht’s noch?
Über 400.000 EPUs und tausende Künstler*innen warten noch immer auf die versprochenen 6.000 Euro, die so „unbürokratisch“ zur Verfügung stehen sollten. Nicht alle haben ausreichend Ersparnisse, um über mehr als zwei Monate ihre Mieten und Fixkosten weiter zu bedienen. Die meisten haben sich auf die versprochenen 6.000 Euro verlassen und erfahren jetzt, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen gerade mal 500 Euro bekommen – das Kleingedruckte eben. Viele bekommen gar nichts. Nur weil ich ausreichend gut verdient habe, bedeutet es doch noch lange nicht, dass ich keine Förderung brauche, wenn plötzlich alles still steht? Es droht eine explodierende Zahl an Mindestsicherungsbezieher*innen, wenn diese Regierung ihre eigenen Versprechungen nicht ernst nimmt. Vielleicht wird diese dann am Ende sogar selbst zurückgelassen.
Wie viel eleganter wäre ein Grundeinkommen, wie es sogar Oberösterreich für Künstler*innen möglich macht?
Die Stimmung ist sicher in vielen Teilen der Bevölkerung am Kippen, einfach weil 100.000e in ihrer Existenz bedroht sind und in Österreich mal wieder die Bürokratie blüht. Die aktuelle Kulturministerin ist auch nicht gerade ein Lichtblick – man fragt sich schon, ob die grüne Regierungsbeteiligung nicht eher dazu dient, auch ihre letzten Wähler*innen zu vergraulen. Die Frage wäre dann nur, woher wir brauchbare Alternativen nehmen sollen.
Die Tage sind übrigens traumhaft, und privat treffe ich vorwiegend Leute, denen diese reduzierte Aktivität im Außen wichtige Erfahrungen beschert hat. Immer wieder führe ich Gespräche über Erschöpfung, die sich seit Jahren angehäuft und in den letzten Wochen Schicht für Schicht gelöst hat. Über wiederentdeckte Fröhlichkeit und Leichtigkeit und den Plan, es nicht mehr so weit kommen zu lassen.
Freitag 8. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 31 aktuell Erkrankte
Es gibt in Vorarlberg seit letzten Sonntag keine Neuinfektion mehr. Vielleicht hat auch ein Virus seine Zeit und zieht sich wieder zurück, einfach weil es nicht mehr ausreichend Wirte findet, um sich auszubreiten. Dann ist der Spuk vorbei. Wäre es möglich, dass das Virus zeitverzögert ankommt und nach Ablauf von etwa zwei Monaten jeweils wieder vergeht? Unabhängig von den Maßnahmen? Ich stelle mir so ein Virus wie ein Kollektiv vor, ein einziger Organismus, der sich ausbreiten muss, aus purem Lebenswillen. Das subjektive Empfinden der Menschen ist trügerisch, vermutlich haben Viren keine Zweifel an ihrem kollektiven Verbundensein, nicht wie der Mensch.
Ich war heute endlich wieder einmal in Deutschland und habe die österreichisch-deutsche Grenze passiert. Ein Termin bei meiner Heilpraktikerin in Achberg machte es möglich, und weil wir uns schon so lange nicht mehr gesehen hatten, machten wir noch einen langen Spaziergang. Auf der Rückreise wurde ich von einem Miliz-Soldaten mit breitem Kärntner Dialekt kontrolliert, der meine im Dialekt vorgetragene Erklärung, woher ich jetzt komme, nicht verstand. Sie hat ihn zum Glück aber auch gar nicht interessiert.
Meine Schwester in der Schweiz hat fast zeitgleich mit mir erfahren, dass sie keine Ausfallsentschädigung zu erwarten hat. Sie ist selbstständige Psychotherapeutin in eigener Praxis. Der Grund für die Absage ist empörend: In Zürich gilt der 31. März als Abgabedatum für die Steuererklärung des Vorjahres. Am 18. März wurde in der Schweiz alles heruntergefahren, ab diesem Tag durfte sie nicht mehr arbeiten. Der Einkommensausfall für den gesamten Zeitraum ist beträchtlich. In dem Schreiben der zuständigen Behörde heißt es, dass nur diejenigen Entschädigung beantragen können, die bis zum 18. März ihre Steuererklärung 2019 eingereicht haben. Nicht, dass das je irgendwo erwähnt worden wäre, dass man die Steuererklärung für die Ausfallsentschädigung brauchte, das ist das eine – aber stillschweigend ein früheres Abgabedatum als Ausschlusskriterium anzuführen, scheint mir schlicht hinterhältig. Willkür ist vermutlich das schönere Wort dafür, aber ich komme um das „Hinterhältig“ nicht herum. Ich hoffe, meine Schwester macht noch einen ordentlichen Wirbel, sie wird ja vermutlich nicht die einzige sein, die eine ähnliche Auskunft erhalten hat.
Wie zu Beginn dieser Notizen (am 11. März spielte James Blunt ein Konzert in der Elbphilharmonie vor einem leeren Saal) lese ich heute, dass in der deutschen Staatsoper Unter den Linden ein Konzert zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs stattfand – ohne Publikum. Dirigent Daniel Barenboim bat inständig darum, die Konzerthäuser bald wieder zu öffnen – Musik braucht Zuhörer, ohne entsteht nicht dasselbe, so der Dirigent. Angesichts der stabilen Zahlen sollten Grenzöffnungen und kulturelle Veranstaltungen doch bald wieder möglich sein? Frankreich überlegt eine Lockerung nach Zonen; sobald die Fallzahlen sieben Tage lang wieder zu hoch sind, soll ein als grün deklariertes Gebiet wieder als rote Zone gelten. Damit ließen sich Tourismus und Kultur wieder vorsichtig starten. Ich frage mich, warum nicht allmählich ein EU-weites Vorgehen in die Wege geleitet wird.
Was mich hingegen heute glücklich gemacht hat, kam am Nachmittag per Mail aus dem vorarlberg museum. Zugriffe auf Internetseiten lassen sich ja erheben, auch wenn Klickzahlen vielleicht halbiert werden müssen, um die Roboterscans wegzurechnen, die jede Website durchforsten, aber dennoch – offensichtlich wird das Tagebuch von vielen Menschen regelmäßig gelesen. Die Zahl übersteigt meinen Freundeskreis ganz eindeutig, was mir während des ganzen langen Spaziergangs ein fröhliches Lächeln bescherte. Ich freue mich immer noch, dass ich jeden Tag diese Zeilen schreiben darf, und dass sie offensichtlich auch gelesen werden, macht die Sache noch viel schöner. Herzlichen an Dank an alle, die hier mitlesen – Sie alle tragen ganz konkret zu meinem persönlichen Glück bei!
Ach ja, und: Es gibt jetzt ein Ablaufdatum – mit dem Öffnen der Türen des Museums am 4. Juni 2020 soll der letzte Eintrag gepostet werden.
Donnerstag 7. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 33 aktuell Erkrankte
Ein erneutes Projekt der Aktion Demenz: Heute Nachmittag fand ein erstes Gartenkonzert gemeinsam mit dem Caritasprojekt „Musik schenkt Freude“ statt. Aus der Idee der Wohnzimmerkonzerte für Menschen, die aus verschiedenen Gründen keine Konzerte mehr besuchen können, etwa weil sie in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, jemanden zu Hause pflegen oder selbst Pflegebedarf haben, entstand jetzt eine coronakonforme Version. Diese hat einen besonderen Reiz entfaltet, denn durch die etwas öffentlichere Form im Garten sind auch Nachbarn willkommen. Ein kleiner Gartenabschnitt als Teil eines Mehrparteienwohnhauses aus den 1980ern, die vier Stockwerke mit Balkonen ausgestattet und auf der gegenüberliegenden Seite ein identisches Haus – hier tragen eine Musikerin mit Ukulele und ein Gitarrist Schlager aus den 1950er Jahren vor. Familien versammeln sich auf den Balkonen oder finden sich im Garten der Gastgeberin ein, auch gegenüber hört ein Nachbar vom dritten Stock aus zu. Aus dem geplanten kurzen Auftritt wird ein veritables Konzert, nachdem immer mehr Nachbar*innen sich dazugesellen – der Abstand ist im Garten noch immer sehr leicht einzuhalten, die Gäste auf den Balkonen sind sowieso unter sich. Die Musikrichtung war nicht ganz die meine, aber sie war perfekt für das Publikum und ich hätte etwas verpasst, wenn ich mir das entgehen lassen hätte.
Dieses Virus ist zwar in Vorarlberg kaum mehr vorhanden (möge es so bleiben), lediglich die gelockerten Regelungen erinnern uns ständig daran, aber ein paar positive Spuren zeigen sich jetzt schon (mögen sie für immer bleiben). Was ich heute an unspektakulärer, schöner Nachbarschaft erlebt habe, ist einfach wertvoll.
Davor war ich etwas frustriert wegen einer Mail von meinem Steuerberater, weil ich keine Unterstützung durch den Härtefallfonds beantragen kann – auch wenn momentan ein beträchtlicher Teil meiner üblichen Einnahmen ausfallen. Er meinte jedenfalls, ich soll es als Glück betrachten, weil ich nach wie vor genug verdiene, um nicht in die Förderung zu fallen. Stimmt natürlich auch – darauf trinke ich am Abend ein Glas Whiskey.
Mittwoch 6. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 32 aktuell Erkrankte
Ich bin immer noch gern zu Hause, die Entschleunigung tut mir gut. In einem Gespräch über den baldigen Start der Schule meinte Ruben, dass diese zu viel Zeit in Anspruch nehme. Die Vormittage würden genügen, weil er auch noch andere Interessen habe, beispielsweise wolle er Computerprogramme schreiben lernen. Und er wolle lesen und Musik hören. Und klettern und Kung Fu trainieren und er liebe Tiere, also müssen wir Freunde mit anderen Tieren besuchen. Außerdem brauche er Zeit mit Freunden – die aber während des Schuljahres auch dauernd verplant sind mit Hausaufgaben, Lernen und Sportvereinen.
Das ist alles völlig aus dem Gleichgewicht, wenn schon Jugendliche kaum mehr Zeit haben fürs Nichtstun. Ganz abgesehen von der mörderischen Frühaufsteherei, die ich immer schon verabscheut habe. Ich bin ein Nachtmensch und werde es immer sein. Ruben ist genauso. Seit er zur Schule geht, bin ich dazu verdonnert, kurz nach sechs Uhr aufzustehen und ihn bald danach ebenfalls aus dem Bett zu bekommen. Ich sehe ihm an, dass das ungesund ist und nicht seinem Rhythmus entspricht, und ich fluche einmal täglich über diesen Zwang, den die Morgenmenschen über den Rest von uns ausüben. Ganz Großbritannien geht erst um 9:00 Uhr zur Schule und bringt trotzdem wunderbare und kluge Menschen hervor. Ich danke dieser seltsamen Zeit, dass sie uns wertvolle Wochen in unserem eigenen Rhythmus beschert.
Gestern waren wir bei einer Familie, die elf kleine Küken im Gartengehege aufziehen, gerade einmal zwei Tage alt. Diese flauschigen Wesen werden in der Nahrungsmittelindustrie geschreddert – vorwiegend die männlichen. Zu tausenden. Mir fehlen die Worte für solche Perversionen.
„Wehe wenn auch nur ein einziges Tier im Weltgericht sitzt“ habe ich irgendwo mal gelesen. Diesen Satz werde ich nie vergessen.
Zu Antonella Mei-Pochtler und ihrer vermessenen Aussage über verpflichtende Apps „am Rande der Demokratie“ muss ich jetzt doch etwas sagen. Mir scheint, die ÖVP verfolgt eine hässliche Strategie, die mich an Minenhunde erinnert: Man schickt eine unbedeutende Person (Frau?) ins Feld und beobachtet was passiert, wenn sie ein sehr heikles Thema platziert. Wenn die Empörung in den Medien groß ist, ist diese Person zwar verbrannt, aber erfolgreich war das Manöver doch. Sie verschwindet von der öffentlichen Bühne, und der Stratege plant für einen späteren Zeitpunkt das heikle Thema neu zu kommunizieren. Ich mag mich täuschen, aber ich glaube allmählich Muster zu erkennen, Kommunikation und ihre Steuerung sind schließlich die Hauptinteressen unseres Kanzlers. Vielleicht sogar die einzigen.
Kürzlich habe ich in einem Gespräch eine ganz persönliche Zukunftsvision entworfen, in der ein Garten und die Verbindung zur Erde eine wesentliche Rolle spielen. Die nächsten zehn Jahre habe ich vermutlich noch anderes zu tun, aber irgendwann möchte ich einen üppigen Garten aufbauen, der ausgelaugte Erde wieder fruchtbar macht.
Während ich das schreibe, höre ich mit halbem Ohr Leschs Kosmos zu und beende den Text an dieser Stelle, nachdem Virologin Dr. Ulrike Protzer leider schlüssig erklärt hat, warum wir erst am Anfang der Pandemie stehen. Ich finde die Dokumentation zu interessant.
Am Ende meines Lebens möchte ich noch ein paar Bäume gepflanzt haben. Vielleicht muss ich doch früher mit dem Garten beginnen.
Dienstag 5. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 40 aktuell Erkrankte
Wir haben im Rahmen der Aktion Demenz einen Film gedreht, der eine kürzlich durchgeführte Aktion dokumentiert: Ehrenamtliche lieferten am Sonntagvormittag frische Brötchen für pflegende Angehörige vor deren Haustüre. Ein Zeichen der Wertschätzung für diese wert- und hingebungsvolle Arbeit, die sie im Stillen leisten und die derzeit besonders herausfordernd ist. Seit heute ist das Video fertig und auf der Website der Aktion Demenz zu finden, ein Einblick in das, was meine Arbeit bei diesem Projekt beinhaltet.
Überhaupt unterschätze ich generell, wie viele Leute sich ehrenamtlich betätigen, ohne das an die große Glocke zu hängen. Wenn ich dann aus beruflichen Gründen mit Zahlen zu tun habe, bin ich erstaunt. Allerdings müsste ich dafür nur mein eigenes Leben anschauen – vor etwa drei Jahren habe ich mich redlich bemüht, zumindest die Hälfte meiner ehrenamtlichen Arbeit aus meinem Leben zu verabschieden – das Ergebnis war lediglich eine Erneuerung, das Ausmaß der Beschäftigung blieb unverändert, glaube ich.
Gestern habe ich einen Artikel zum bedingungslosen Grundeinkommen in Zeiten von Corona geschrieben und deshalb wieder dazu recherchiert. Er wird in der nächsten Ausgabe der „marie – Die Vorarlberger Straßenzeitung“ erscheinen. Dieses Thema begleitet mich seit vielen Jahren, weil ich die starke Vermutung habe, dass viele unserer hausgemachten Probleme mit einem echten Grundeinkommen leichter zu handhaben wären. Und es würde mich begeistern, eine so bahnbrechende Einführung miterleben zu dürfen und dabei zu beobachten, was sich in der Gesellschaft verändert und welche langfristigen Auswirkungen sie hätte. Ich sehe die Einführung eines Grundeinkommens als einen von vielen notwendigen Schritten – für sich allein wird es vermutlich nicht allzu viel verändern, aber wenn es etwa einherginge mit einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft und der Umsetzung der Klimaziele, wäre das schon eine sehr spannende Zeit.
Es gibt neben hässlichen Meldungen auch wirklich Erfreuliches in den Nachrichten zu finden, heute gleich zwei Schlagzeilen: Zum einen will Italien 600.000 illegal im Land lebenden Menschen einen Aufenthaltsstatus verleihen. Sie verdingen sich seit Jahren als Erntehelfer oder Dienstpersonal im Land und werden schwarz bezahlt, mit einem Hungerlohn und ohne jegliche Absicherung. Jeder Mensch braucht eine Perspektive.
Und fast noch besser: Der Spiegel berichtet, dass 400 Großinvestoren die Einhaltung der Klimaschutzziele einfordern. Zusammen verwaltet diese Gruppe mehr als 30 Billionen Dollar, ihre Motivation entspringt der Sorge um den Profit. Dasselbe Argument gilt für die dringende Einführung des Grundeinkommens – reine Rechenarbeit, am Ende profitiert auch die Wirtschaft davon. „Ein beschleunigter Übergang hin zu Netto-Null-Emissionen kann neue Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum schaffen, zusammen mit anderen Vorteilen wie Energiesicherheit und sauberer Luft“, heißt es in dem Schreiben, das die Investorengruppe an die Regierungen der führenden Industrie- und Schwellenländer gerichtet hat. Äußerst interessant, was derzeit alles möglich ist.
Montag 4. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 40 aktuell Erkrankte
Die Schule hat einen Plan vorgelegt, wie es weitergehen soll. Ab 18. Mai wird Ruben jeden zweiten Tag Unterricht haben, von 9:00 bis 13:00 Uhr. Zum Glück ist der Unsinn von „5 Tagen Schule, 5 Tagen frei“ vom Tisch – das hat mir schon Sorgen gemacht, denn jedes Kind betrachtet eine Woche schulfrei zunächst mal als Ferien (naja, das ist sicher altersabhängig). Derzeit hat mein Sohn eigentlich keine Zeit für Schulaufgaben, es müssen dringend Freundschaften gepflegt und aufgefrischt werden. Ich bin der Meinung, dass seine Freunde sehen zu können derzeit Priorität hat. Außerdem hat das Spielzeuggeschäft in Bregenz endlich wieder geöffnet, was sofort zur Recherche und der Erstellung einer Wunschliste geführt hat. Am Abend schauen wir seit ein paar Tagen die Sherlock-Holmes-Serie mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle. Diese ist so spannend, dass auch dann keine Zeit für liegengebliebene Aufgaben übrig ist – sie macht ein bisschen süchtig.
Unsere österreichische Kanzler-Beraterin Antonella Mei-Pochtler kündigt an, dass wir uns daran gewöhnen werden müssen, am Rande der Demokratie zu leben.
Übersetzt heißt das, rechts neben der ÖVP ist überhaupt kein Platz mehr, nach dem die FPÖ verstummt ist. Sie träumt davon, dass jeder und jede eine verpflichtende Überwachungsapp haben wird. Ich habe gar keine Lust, das auch noch zu kommentieren, aber es muss doch festgehalten werden – ich glaube, es zählt zu der elenden Reihe historischer Ereignisse, dass Derartiges jetzt ganz unverhohlen ausgesprochen werden kann. Dann wird dementiert, dann wieder vorgeprescht und so weiter, bis sich keiner mehr dafür interessiert. Danach geht es vielleicht ganz einfach, sie einzuführen.
Außerdem frage ich mich dauernd, welchen Auftrag die Miliz hat, die jetzt an unseren Grenzen stationiert ist. „Der Großteil der Soldaten wird an der Grenze zu Liechtenstein, der Schweiz und Deutschland stehen, um einerseits die Polizei bei sicherheitspolizeilichen Tätigkeiten und andererseits die Bezirkshauptmannschaften bei gesundheitsbehördlichen Kontrollen an den Grenzübergängen zu unterstützen“ – so ist zu lesen.
Wir haben noch 40 Infizierte in Vorarlberg, die gesamte Bodenseeregion ist stabil. Welche Gefahr soll uns jetzt an der Grenze drohen?
Sonntag 3. Mai | 885 Infizierte in Vorarlberg | 44 aktuell Erkrankte
Sieben Milliarden Verdächtige – diese Furcht steckt hinter dem Wunsch nach Überwachung. Die technischen Möglichkeiten sind ausgereift, eine Arte-Dokumentation zu diesem Thema wirkt stellenweise wie ein Science-Fiction-Film.
Sie verdirbt mir den Tag, aber ich finde, man sollte sie anschauen. Gesichtserkennungskameras sind auch in Österreich bereits installiert, darüber habe schon einmal geschrieben. Ich finde es schockierend, dass solche Dinge geschehen, ohne die Menschen darüber zu informieren. Da kommt wirklich Hässliches auf uns zu, und ich wünsche mir schon wieder Frau Bierlein zurück an die Regierungsspitze – die Frau kennt unsere Verfassung und nimmt sie ernst. Eine freiwillige Corona-App ist eine Sache, aber was sich da weltweit wie ein Lauffeuer ausbreitet, hat eine ganz andere Dimension – in China gibt es zum Beispiel das System „Sozialkredit“. Ein zynischer Begriff für eine Strafverfolgung, die das kleinste Vergehen mit der Sperrung alltäglicher Dinge ahndet, vom Zugticket bis zum Ausbildungsplatz. Das schlimmste Land ist Israel, das Verhältnis von Technologie und Bevölkerungsanzahl klafft viel weiter auseinander als in China.
Eine schöne lange Runde auf die Fluh mit einer Freundin, wir sprechen über Rituale, die uns fehlen. Zum Beispiel der Besuch eines Cafés nach einem Spaziergang. Es ist Teil der globalen Kultur, dass wir uns in Cafés und Gaststätten treffen, und wir sind schon so lange davon abgeschnitten. Wir fragen uns, welche Restaurants, Bars etc. diese Zeit überhaupt überstehen werden – ein Schreckensszenario wäre am Ende die Schließung vieler Familienbetriebe und regionaler Unternehmen, während internationale Ketten übrig bleiben.
Ich finde einen kurzen Bericht aus Litauen, wo in der Hauptstadt Vilnius Cafés, Restaurants und Bars ihre Tische vermehrt im Freien aufstellen und die öffentlichen Plätze dafür mitnutzen dürfen. Zusätzlich bekommt das medizinische Personal der Stadt Gastronomiegutscheine im Wert von rund 400.000 Euro, die in Gaststätten der Stadt eingelöst werden können. Das sind kluge Initiativen, um der Gastronomie auf die Sprünge zu helfen – ich weiß nicht, aber Österreich und auch Vorarlberg glänzen nicht gerade durch Innovation, was die Bewältigung dieser Krise angeht. Außer auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Dafür liest man immer denselben alten Zopf: 767 Millionen Euro Staatshilfe möchte die AUA (und damit die Lufthansa), und wenn die Regierung zustimmt, kostet das jeden Menschen in Österreich 87 Euro. Davon fließen 18 Euro pro Kopf allein in die Finanzierung von Luxuspensionen. Kinder aus armutsbetroffenen Familien sind der Regierung hingegen weniger als sieben Euro pro Kopf wert. Das ist unsozial und sehr kurzsichtig, und diese Art von Politik ertragen wir meiner Meinung nach schon viel zu lange. Wetten, dass der Deal mit der AUA zustande kommt?
Samstag 2. Mai | 883 Infizierte in Vorarlberg | 42 aktuell Erkrankte
Dieses Virus besitzt die Eigenschaften eines Vergrößerungsglases.
Einige Dinge, die während der Pandemie sichtbarer geworden sind: Man kann auch ganz anders kommunizieren, wenn man ein Land als Kanzlerin oder Kanzler durch eine Pandemie navigiert. Es geht beispielsweise auch auf Augenhöhe und zwar mit allen, die im jeweiligen Land leben, selbst mit Kindern, wie es Sanna Marin in Finnland und Jacinda Ardern in Neuseeland vormachen. Ich finde das deshalb so beeindruckend, weil es eine grundsätzlich andere Haltung verrät, die der unseres Kanzlers entgegengesetzt ist. Wenn ich nur besser finnisch könnte ... oder Neuseeland nicht so verdammt weit weg wäre.
Noch etwas, was sichtbarer geworden ist: Nicht, dass es überraschend wäre, aber Luftverschmutzung scheint beträchtliche Gesundheitsschäden zu verursachen. Klar, das wissen wir.
Jetzt nun meine Frage: Wenn man anlässlich einer Pandemie bereit ist, für die Gesundheit der Bevölkerung Milliardenschäden der Wirtschaft in Kauf zu nehmen (was ich grundsätzlich gerne für richtig halten will), sollte man eventuell einmal ausrechnen, was eine dauerhafte Luftverschmutzung mit unserer Gesundheit anrichtet und wie sich das in Todes- und Krankheitsfällen ausdrückt? Und ob es sich vielleicht lohnen könnte (rein rechnerisch), die Luft langfristig sauberer zu halten und damit Krankheit und Tod zu verhindern? Offensichtlich kam es überall dort zu schweren Corona-Verläufen, wo die Gesundheit der Bevölkerung durch Umweltbelastungen geschwächt ist. Dies belegt auch eine kürzlich erschienene Studie, in der etwa zu lesen ist: „Ein Vergleich mit den Covid-19-Todesfällen in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland zeigte demnach, dass vor allem jene Regionen hohe Todeszahlen aufweisen, in denen sowohl die Belastung mit Stickstoffdioxid besonders hoch als auch der vertikale Luftaustausch besonders gering sind.“
Weitere Dinge, die diese Pandemie sichtbar macht: Beziehungen, die deshalb halten, weil man sich nur zu Randzeiten zu Hause antrifft, sind derzeit sehr gefährdet. Meine Gespräche mit Freundinnen sind in den letzten Tagen wieder sehr persönlich geworden, das passiert von selbst, wenn man sich bei einem Glas Wein gegenübersitzt. Das Zusammenleben ist eine Herausforderung, das war es immer. Unter dem Vergrößerungsglas der Ausgangsbeschränkungen wird es nicht einfacher. Ich frage mich immer wieder, was ich als Mutter eines 13-jährigen Sohnes beitragen kann, damit es später in seinem Leben ein echtes Miteinander geben kann. Dazu gehören viele Faktoren – auch die Fähigkeit, über Gefühle zu sprechen. Kinder lernen vor allem dadurch, dass sie uns beobachten und sie verinnerlichen das, was sie sehen und wahrnehmen – nicht das, was wir ihnen zu erzählen versuchen. Es lohnt sich also, wenn beide Elternteile bei sich selbst beginnen ...
Ruben war übrigens heute den ganzen Tag mit seiner Freundin unterwegs, ihre Geburtstagsparty begann schon um 10:00 Uhr vormittags, und zehn Stunden später war er immer noch nicht daheim. Auch der nächste Tag ist vollkommen verplant. Ich bin so froh darüber.
Freitag 1. Mai | 883 Infizierte in Vorarlberg | 47 aktuell Erkrankte
Ab heute sind die Ausgangsbeschränkungen zwar lockerer, aber das Abstandhalten wird uns bleiben. Die Eleganz, die in Japan bei der Begrüßung und beim Abschied zelebriert wird, wenn man sich voreinander verbeugt, werden wir so schnell nicht hinbekommen, fürchte ich. In Japan ist die körperliche Distanz eine Form von Respekt, die ich als sehr angenehm empfinde. Bei der tiefen Verbeugung kommt es zu einem kurzen Moment des Innehaltens voreinander, dafür fehlt uns in der westlichen Kultur schon die Grundhaltung unseren Mitmenschen gegenüber. Unsere neuen Begrüßungsformen lösen Unsicherheit aus, weil die fehlende Umarmung oder die Verweigerung des Händeschüttelns Ausdruck von Fremdheit oder sogar von Konflikt sind, und diese Körpersprache wirkt selbst dann irritierend, wenn alle Beteiligten aus bekannten Gründen damit vertraut sind.
Ich hatte heute bezaubernden Besuch zu Hause, so richtig mit Kaffee und Kuchen und viel Gelächter. Unter anderem wurde die Körpersprache von Herrn Kurz diskutiert, der sein „Wie wirke ich wie ein seriöser Politiker“-Training so verinnerlicht hat, dass ihm vor der Kamera niemals eine natürliche Geste entwischt. Seine Hände sprechen eine seltsame Zeichensprache, nur an Eingeweihte gerichtet. Ich finde, er wirkt nur dann halbwegs natürlich, wenn er bei Parlamentssitzungen am Handy spielt und sein ehrliches Desinteresse an den Ausführungen seiner Kolleg*innen sichtbar wird. An seiner Stelle hätte ich mehr an Englischkursen teilgenommen, aber das ist natürlich seine Sache.
Leider habe ich schon eine Meldung entdeckt, die in Wien wieder eine höhere Infektionsrate vermeldet. Möglicherweise ist eine „zweite Welle“ in Vorarlberg mit den derzeit 47 Erkrankten aber gar kein Thema mehr. Hoffentlich.
Inzwischen habe ich etwa 20 Masken genäht und sie teilweise per Post an Freund*innen verschickt. Mein Homeoffice-Wohnzimmer ist deshalb jetzt auch eine Werkstatt, neben Schulbüchern stapeln sich Stoffe auf dem Bügelbrett und die Yogamatte liegt auch irgendwo dazwischen. Zumindest die Katze findet das alles interessant und testet neue Schlafplätze. Außerdem regnet es endlich ausgiebig, und man kann ungestört zu Hause bleiben.
Die Feierlichkeiten zum 1. Mai fallen den Einschränkungen zum Opfer, angesichts der aktuellen Arbeitslosenzahlen ist das wohl ganz passend, wenn der Tag der Arbeit nicht gefeiert wird. In den Nachrichten werden Bilder vom leeren Rathausplatz in Wien gezeigt, auf Facebook sehe ich allerdings Fotos von vermummten Demonstrant*innen – ganz nach Vorschrift. Laut Augenzeugen haben doch mehr als 1000 Menschen an einer Demo zum 1. Mai teilgenommen, wo genau wird nicht erwähnt. Wir brauchen eine Demonstrationsform mit ausreichend Abstand, ganz ohne Proteste wird es die nächsten Monate und vermutlich Jahre nicht gehen. Mir fallen auf Anhieb mehrere Gründe ein, für die es sich jetzt zu demonstrieren lohnt.
Hier ist ein guter Überblick über die aktuellen weltweiten Zahlen zu Corona, falls das überhaupt noch jemand hören kann.
Donnerstag 30. April | 882 Infizierte in Vorarlberg | 55 aktuell Erkrankte
Ich weiß gar nicht, ob ich dazu schon bereit bin, aber es passiert fast von selbst, aus Begeisterung: Meine Verabredungen vervielfachen sich. Ich freue mich sehr darauf, meine liebsten Freund*innen wiederzusehen – von Angesicht zu Angesicht, weiß aber, dass ich dazu tendiere zu viele Treffen in zu kurzen Zeitabständen unterzubringen. Vielleicht schaffe ich es ja, etwas ganz Konkretes aus dieser seltsamen Zeit zu lernen und besser darauf zu achten, einfach weil ich bei einem Treffen wirklich aufmerksam sein möchte.
Im Leben meines Sohnes gibt es wieder Einladungen zu Geburtstagspartys und Freunde, die zu Besuch kommen wollen. Was für ein Glück. Ruben war in all diesen Wochen extrem kooperativ, seit heute sind sogar (fast) alle Schulaufgaben erledigt, der Rest ist sehr überschaubar. Neuerdings hat er in seinem Jugendzimmer eine Lounge-Ecke eingerichtet, wo er seine eigene Filmauswahl auf dem Laptop schauen will. Irgendwie sind das gerade Riesenschritte (ich weiß auch hier nicht, ob ich dazu schon bereit bin), die langsame Abnabelung wird nun deutlich sichtbar. Wenigstens innerhalb der Wohnung. Es ist aber auch echt schwer, sich mit mir auf einen Film zu einigen, und mit seinem Vater ist es auch nicht leichter. Wir Erwachsene sind uns immer einig und naturgemäß ist er dann in der Minderheit – was nicht heißt, dass er nicht mitbestimmen darf.
Ich mache mir Sorgen, weil sich in Ländern mit schwacher Infrastruktur vieles schneller zeigt: Eine vier Kilometer lange Warteschlange von Menschen, die in Pretoria für Lebensmittel anstehen, in Kenia schwärmen erntezerstörende Heuschrecken zum zweiten Mal über das Land. Eine Hungerkatastrophe bahnt sich an, nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent. Und in den USA sind 30 Millionen Menschen arbeitslos. Noam Chomski nimmt die Situation unter die Lupe, für ihn sind die USA ein „failed state“, über den Präsidenten sagt er: „Trump is in a class by himself. Not just as a con man, but much more significantly as a dedicated enemy of the human race.“
Das riecht nach großer Gefahr. Seine Ausführungen, wie man diesen Verflechtungen und Strukturen etwas entgegensetzen könnte, lesen sich zahn- und hilflos, was mich an ein Panel während eines Symposiums im Jänner erinnert. Ein junges Team von Werbefachleuten hat uns dort die Professionalisierung der rechten Szene im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit präsentiert – ich bin wirklich aus allen Wolken gefallen. Dieser Vortrag scheint mir so lange her, aber das war erst im Jänner. Ich habe für eine halbe Stunde in ein Netzwerk geblickt, das mit großem Know-how und Unmengen Geld ausgestattet ist. PragerU ist nur eine der Adressen, die sehr seriös als Informationsplattform auftreten und dabei rechtsradikale Ideen so verpacken, dass man fast versucht ist, ihnen zuzustimmen. Nur fast. Wer sich das anschauen möchte, mag es selbst googeln. Diese Leute haben in den letzten Jahren richtig aufgeholt, während die linke Szene den Traum der Gerechten weiterträumt. Ich denke, wir haben Handlungsbedarf und sollten dringend aufwachen.
Mittwoch 29. April | 882 Infizierte in Vorarlberg | 72 aktuell Erkrankte
Ich war beinahe den ganzen Tag damit beschäftigt, einen neuen Blog zu starten – und zwar im Rahmen der Aktion Demenz, die ich in meiner sehr geschätzten Teilzeitstelle koordiniere. Aus den letzten Wochen gibt es unzählige Geschichten, die von Unterstützungen und Hilfeleistungen der Nachbar*innen, der pflegenden Angehörigen und Familien in Quarantäne erzählen. Wenn ich lese, wie viele Ehrenamtliche sich allein in Wolfurt gemeldet haben (60!), dann will ich einfach nicht glauben, dass wir als Menschheit dermaßen unverträglich sein sollen für die Umwelt und die Zukunft der nächsten Generationen. Ich weiß, dass nicht zwingend ein Zusammenhang besteht, aber es ist doch so, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen empathisch und hilfsbereit ist – und nicht will, dass wir einen Klimawandel erzeugen. Wir brauchen mehr Menschen, die positive Zukunftsbilder öffentlich formulieren, sagt Mark Riklin, ein befreundeter Soziologe und wunderbarer Komplize bei so vielen Projekten. Ich bin überzeugt davon, dass im Erzählen des Positiven eine große Kraft steckt, die sich entfalten lässt. Text "Das Virus hat eine Stopptaste gedrückt" von Mark Riklin.
„Wie wenig Lärm machen doch die wirklichen Wunder dieser Welt.“ Antoine de St. Exupéry
Die Regierung hat meiner Meinung nach einen wirklichen Bock geschossen mit der Kommunikation um die privaten Besuchsverbote, aber erst jetzt, im Nachhinein. Ich habe die ersten Formulierungen so in Erinnerung, dass eine Reduktion der Kontakte stark empfohlen und der Zugang zu öffentlichen Plätzen verboten wird. Irgendwann kam Herr Kurz auf die Idee, zu sagen, es gäbe nur vier Gründe, das Haus zu verlassen (die vier Gründe kennen wir wohl alle). Leider hat er in diesem Zusammenhang vergessen zu erwähnen, dass es sich dabei um eine Empfehlung handelt. Das alles wäre aber halb so schlimm, finde ich, und offensichtlich hat diese Regierung wirklich ziemlich gute Arbeit geleistet, was die Eindämmung der Infektionsrate angeht. Sie hat es nicht nötig, jetzt still und heimlich den Text auf der Website des Ministeriums zu ändern. Was ist so schwer daran, sich hinzustellen und zuzugeben, dass man aufgrund der Rechtslage private Besuche zwar nicht verbieten konnte (zum Glück), es aber eben im Interesse der Sicherheit wünschenswert war, sie auf ein Minimum zu beschränken? Es gäbe Bedarf an einem Kommunikationstraining, das auf radikaler Ehrlichkeit basiert, finde ich – warum sollen Politiker in solchen außergewöhnlichen Zeiten keine Fehler machen dürfen?
Und nun zu den historischen Ereignissen: Ich glaube nicht, dass ich je im Standard einen Bericht über UFOs gelesen habe. Als hätten wir nicht schon genug Probleme.
Ich war früher als Flugbegleiterin bei stundenlangen Nachtflügen oft im Cockpit und habe mich mit den Piloten unterhalten (damals durfte man im Flugzeug noch rauchen, so lange ist das schon her!). Es waren nicht wenige unter ihnen, die seltsame Flugobjekte gesehen haben – und alle weigerten sich, darüber in der Öffentlichkeit zu reden (schließlich wollten sie ihren Job behalten). Selbst meine Mutter hat ein UFO gesehen. In Hohenems, über dem Schloßberg. Leider war es 3:00 Uhr nachts, und es ging sich nicht aus, mich zu wecken, weil das Ding einfach zu schnell war. Sie hat nie getrunken und war immer eher rational veranlagt, und sie war felsenfest davon überzeugt, dass es ein UFO war. Was auch immer sie gesehen hat oder was auch immer diese Aufnahmen in dem Standardartikel zeigen ... es gibt auf jeden Fall mehr, als wir mit unseren eingeschränkten Sinnen sehen oder hören. Das ist wissenschaftlich erwiesen – die gesamte Tierwelt hat in unterschiedlichen Bereichen eine präzisere Wahrnehmung als wir. Nur, wenn ich mir etwas wünschen darf: Könnten wir das mit den UFOs auf später verschieben, bis wir unsere dringendsten Hausaufgaben erledigt haben? Bitte?
Dienstag 28. April | 881 Infizierte in Vorarlberg
Keine Neuinfektion. Die oben genannte Zahl der Infizierten ist im Grunde obsolet, die meisten sind genesen, aktuell sind noch etwa 80 Personen erkrankt. Inzwischen schaue ich seit sieben Wochen täglich Vorarlberg Heute, was ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan habe – auf der Suche nach der aktuellen Zahl der Infizierten für eben dieses Tagebuch. Jedes Mal bleibe ich danach etwas verzweifelt zurück und frage mich, ob das ORF Landesstudio irgendwann eine Erhebung in der Bevölkerung gemacht hat und aufgrund dieser Recherchen die Ausrichtung der Sendung gestaltet. Ich fühle mich nach V-Heute immer ein bisschen zum Kind degradiert und mag nicht glauben, dass „wir Vorarlberger*innen“ die Lokalnachrichten so wollen würden, wären wir gefragt worden. Ich muss dazu erwähnen, dass wir keinen Fernseher haben und ich deshalb vielleicht auch naiv bin, was das Fernsehprogramm betrifft. Egal. Die Ausgangsbeschränkungen enden ab Freitag, die Gaststätten dürfen Mitte Mai wieder öffnen, selbst die Freibäder werden aufmachen können. Ich bin für Samstag zum Mittagessen verabredet, das ist schon fast aufregend.
Auf der Suche nach einem Gegenprogramm zu den Nachrichten stoße ich wieder einmal auf die wunderbare Carolin Emcke. Sie bringt in einem Statement auf den Punkt, was ich seit Wochen leicht verwundert wahrnehme, nämlich, dass es seltsam still ist um die rechten Parteien. Offensichtlich haben sie mit einer realen Bedrohung nichts am Hut (ausgenommen vielleicht die Machthaber, die die Situation nutzen, um das Parlament zu entmachten). Angesichts einer echten Gefahr herrscht das große Schweigen, weil deren Themen eher heraufbeschworene Szenarien sind ... eben alles, was sich für rassistische und antifeministische Ziele benutzen lässt. Ich glaube, Frau Emcke hat recht, wenn sie behauptet, dass die Inkompetenz dieser Parteien derzeit besonders sichtbar wird. Rechte Ideologie-Verfechter können ihrem Wesen nach nicht Teil einer Lösung sein.
Eine Freundin schickt mir Fotos vom aktuellen Schulalltag der Volksschule Kirchdorf in Lustenau. Sie ist Lehrerin und bereitet seit Wochen mit ihren Kolleginnen diese schön verschnürten Pakete für jedes einzelne Kind vor. Diese liefern sie mit dem Rad vor die Haustüren oder lassen neuerdings die Kids in die Schule kommen, um die Unterlagen abzuholen. Jedes Kind bekommt individuell abgestimmte Lerninhalte, damit es motiviert bleibt und nicht überfordert wird. Ich finde, diese Bilder sind wirkliche Zeitdokumente, die ich mit Erlaubnis der Eltern hier zeigen darf.
Montag 27. April | 881 Infizierte in Vorarlberg
Der teilnehmerlimitierte Unterricht in Französisch erwies sich als Einzelunterricht für Ruben – die anderen drei Schüler*innen haben vergessen zu kommen oder kurzfristig abgesagt. Er fand das zwar ganz witzig, aber eigentlich hatte er gehofft, endlich mal ein paar Kids in der Schule anzutreffen. Damit war er auf dem Heimweg erfolgreicher und kam erst relativ spät nach Hause. Gut so.
Das Ministerium hat stillschweigend eine Information auf der Website geändert, dort steht jetzt zu lesen, dass private Kontakte selbstverständlich erlaubt sind. Davor war dieser Abschnitt bewusst unklar formuliert, jetzt ist die Empörung darüber ebenso groß wie über die geleakten Protokoll-Schnipsel, in denen zu lesen ist, dass mehr Angst vor dem Virus vonnöten sei. Ich will jetzt wirklich nicht unseren Bundeskanzler verteidigen, aber ganz ehrlich ... das ist ja wohl klar, dass ohne eine gewisse Furcht solche drastischen Maßnahmen nicht umzusetzen sind. Die Furcht vor einer Infektion ist ja auch nicht falsch und daher in einem Protokoll über mögliche Strategien nicht allzu verwunderlich. Verwunderlich ist dabei eher die Tatsache, dass solche Nebensächlichkeiten mal wieder in die Medien gelangen und dort aufgeblasen werden. Viel Lärm um nichts, scheint mir. Aber 85 % weniger Niederschlag in Österreich, kein Lärm.
Wohltuend klar und sehr hörenswert ist hingegen ein Gespräch mit Bazon Brock über „Die Gesellschaft nach Corona“. Gemeinsam mit dem Philosophen Julian Reiss wirft er einen scharfsinnigen Blick auf unsere Gesellschaft und darauf, wo die echten Herausforderungen liegen. Ein Zitat daraus:
„Die sozialen Komponenten werden die Steuerzahler zu begleichen haben (wie immer) und die Marktstrukturen bestimmt das Kapital. Das heißt, es gibt weiterhin keinen Markt, wir haben ja keine Marktwirtschaft, weil der Markt über pausenlose Subventioniererei, die über Parlamentarierkontrolle durch Lobbyisten erreicht wird, zerstört worden ist. Das entscheidende Instrument (...), nämlich der Markt, existiert nicht.“ ... und weiter: „... Wir haben bisher noch keinen Kapitalismus gesehen, das waren alles Gaunereien über die Vernichtung des Marktes als Regulativ ...“. Ich kann nur hoffen, dass wir es schaffen, diese Diskussion endlich zu beginnen und einen nüchternen Blick auf Ursache und Wirkung gesellschaftlicher Verwerfungen zu wagen. Das wäre eine interessante Folge einer veritablen Krise wie dieser.
Sonntag 26. April | 881 Infizierte in Vorarlberg
Bisher sind insgesamt 15 Erkrankte gestorben, keine Neuinfektion. Nur noch 107 Menschen sind infiziert, zumindest soweit bekannt. Ich habe den Sonntag damit verbracht Masken zu nähen. Ein weiteres Zugeständnis, ich hatte immer noch die völlig unrealistische Hoffnung, dass das Maskentragen wieder verschwindet – ich brauche für manche Dinge immer ein wenig länger. Jetzt gehen mir diese Einwegmasken auf die Nerven und, da wir noch länger damit rumlaufen werden, habe ich die Nähmaschine abgestaubt und uns und einige Freund*innen mit selbst genähten Masken versorgt. Es ist lange her, dass ich an der Nähmaschine saß, und wie jedes Mal mache ich auch heute wieder die Erfahrung, dass handwerkliches Arbeiten mir gut tut. Es erdet mich, es fokussiert meine Gedanken und am Ende des Tages bin ich zufrieden wie selten. Außerdem ist das Ergebnis nützlich, weil ich morgen mit einer passenden Maske einkaufen gehen kann und Ruben nicht aussieht wie ein Pflegepraktikant, wenn er endlich wieder mal in die Schule darf. Er nimmt morgen an einem teilnehmerlimitierten Unterricht in Französisch teil und braucht deshalb auch so ein Ding.
Ich bin etwas schockiert über einen Bericht in Vorarlberg Heute – ein paar junge Leute müssen jeweils 500 Euro Strafe bezahlen, weil sie beim Plaudern auf der Straße den Mindestabstand nicht eingehalten haben. Das ist richtig viel Geld, so ganz ohne Verwarnung. Ich finde das übertrieben. Es häufen sich die Hinweise von besorgten Bürger*innen an die Polizei, was nichts anderes als Denunziantentum ist. Ich frage mich, wie das gehen soll, etwa auf dem Pausenhof oder an der Bushaltestelle, sobald die Schule am 18. Mai wieder aufsperrt. Darf ich dann mit Strafen in ähnlicher Höhe rechnen, wenn die Kids alle gleichzeitig in den Bus drängeln?
Daneben finde ich schöne Bilder vom Donaukanal in Wien (https://www.facebook.com/gehtdochwien/), wo Abstandsmarkierungen auf dem Boden das gemeinsame Zusammensein möglich machen – man sitzt in „seinem“ Bereich und doch zusammen. So ähnlich wird vielleicht unser Sommer aussehen ... Sommer ist für mich voller Bilder aus Griechenland, wie gerne würde ich auch dieses Jahr dorthin fahren. Dass die Griechen eine bemerkenswert erfolgreiche Performance hinlegen im Umgang mit der Pandemie, scheint unsere Medien nicht zu interessieren, aber es ist wichtig. Es ist deshalb wichtig, weil sie besser vorbereitet waren als andere Länder, etwa die teure Schweiz oder Österreich – obwohl dank der erzwungenen Sparmaßnahmen noch immer ein absolut desolates Gesundheitssystem eine große Gefahr darstellt. Falls es am Ende zu einer Art Pandemie-Ranking kommt, steht Griechenland ganz weit oben auf dem Sockel, neben ein paar von Frauen geführten Ländern, die ich schon erwähnt habe.
Samstag 25. April | 881 Infizierte in Vorarlberg
Keine Neuerkrankung.
Zum Überfluss an historischen Ereignissen füge ich unwillig noch eines dazu – ich hatte versucht es zu ignorieren, aber das geht nicht mehr: Am Himmel taucht jetzt regelmäßig eine Lichterkette auf, die Starlink-Satelliten, die Vorhut einer neuen Welt. Einer Welt, in der Einzelpersonen entscheiden können, 42.000 Satelliten in die Umlaufbahn zu senden und Experimente anzustellen, gänzlich ohne Mitsprache von Staaten oder Bürger*innen – einfach weil sie dermaßen viel Geld haben, dass sie es können. Die Proteste empörter Astronomen laufen ins Leere, der Orbit gehört jetzt Elon Musk und seiner neuen Hochgeschwindigkeitsdatenübertragung. Damit können die umstrittenen 5G-Masten in Österreich wieder verschrottet werden, um die sich derzeit so viele neue Ängste ranken. Gegen das, was bei SpaceX in Planung ist, sind die netten 5G-Dinger ein Kabeltelefon mit Wählscheibe.
Letzten Herbst habe ich Ruben von einer Doku erzählt, die mich zutiefst abgestoßen hat – dabei ging es um Experimente von Teslas Neuralink Interface, bei dem ins menschliche Gehirn haarfeine Sonden gepflanzt werden, damit man durch Gedankenkraft das Smartphone oder den Computer bedienen kann. Dazu werden in die Schädeldecke ca. 20 haarfeine Löcher gebohrt, durch die die Sonden an die vorgesehenen Stellen geführt werden. Rubens Reaktion kam ohne Zögern: „Wow, das will ich auch!“
Ich war ehrlich schockiert und fühlte mich unendlich alt. Unsere Diskussion über die Möglichkeiten, die eine solche Verbindung von Computer und Gehirn eröffnen werden, war von zwei stark abweichenden Positionen geprägt. Auf der Website von Teslarati geben 70 % an, sie würden sich die Sonden implantieren lassen. Ich gehe davon aus, dass nur eine bestimmte Art von Nerds überhaupt auf die Seite kommt, daher halte ich die Aussagekraft dieser Zahl für verzerrt ... aber mein Sohn würde jedenfalls „sign me up“ wählen. Ich finde den Standard-Artikel nicht mehr, in dem berichtet wurde, dass diese Technologie bereits an Menschen getestet wird, jedenfalls habe ich das so in Erinnerung.
Und in dieser Welt wollen wir eine umweltfreundliche und wenn möglich auch gerechtere Lebensweise auf die Reihe bekommen, und zwar bitte gleich für alle Lebensformen. Vielleicht haben wir zu viele Parallelwelten auf einem einzigen Planeten gleichzeitig, um uns überhaupt noch verständigen zu können. Vielleicht sollte man nicht über die Abschaffung des Bargelds nachdenken, sondern über die Abschaffung des Geldes – damit niemand auf diesem Erdball sich so weit über alle anderen erheben kann. Es gäbe durchaus alternative Werte, denen nachzujagen sich lohnen würde und die weit schwieriger zu erreichen sind als Geld. Den Größenwahn zu überwinden oder die Wirkungsweise des Egos zu begreifen beispielsweise. Könnte das nicht mal ein Hype werden?
Freitag 24. April | 881 Infizierte in Vorarlberg
Ich habe endlich das Hochbeet für die Terrasse in Angriff genommen – maßgeschmiedet von Integra, heute Morgen geliefert. Also war der Besuch eines Großhandels für Pflanzen unvermeidlich. Ich frage mich, ob mich eigentlich große Ansammlungen von Menschen immer schon so gestresst haben oder ob ich jetzt einfach entwöhnt bin.
Die Empfehlungen der Regierung lassen sich auch großzügig interpretieren, wie der Psychologe Haim Omer hier wundervoll auf den Punkt bringt: „Alte Menschen dieser Welt, vereint euch!“
Trump denkt laut darüber nach, ob es nicht eine gute Idee wäre, den Menschen Desinfektionsmittel zu injizieren (Ich kann nicht glauben, was ich da schreibe). Sein Mitarbeiterstab besteht inzwischen offensichtlich nur noch aus willenlosen Untertanen, niemand wagt es, Einspruch zu erheben oder auf die Gefahr einer solchen Idee hinzuweisen. Ich glaube, bei uns wäre so ein Mensch besachwaltet, in den USA bekommt er tägliche Fernsehzeit, die er mit seiner Dummheit vergeudet, anstatt Ärzte und Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen. Gut, in Österreich gibt es auch Dinge, die mich aufregen, aber Trump bringt immer neue Dimensionen ins Spiel. Ein Blick in die US-Medien und ich bin schon wieder dankbar, dass ich hier leben darf. Obwohl ... naja.
In Bayern erhalten Kulturschaffende eine Art Grundeinkommen, immerhin 1000 Euro monatlich. Österreich scheint in Zukunft ohne Künstler*innen auskommen zu wollen. Ein Zweig, der über 6 Milliarden Euro jährlich lukriert und tausende Arbeitsplätze schafft, wie in einem offenen Brief der Kunsthochschulen an die Regierung zu lesen ist. Wer braucht schon Bücher, Musik, Fotos oder Filme in Zeiten der erzwungenen Isolierung? Von dem vielzitierten „Team Österreich“ ist nichts mehr zu hören, wenigstens eine Peinlichkeit weniger – die Entsolidarisierung wird wieder sichtbarer (nicht, dass sie je verschwunden gewesen wäre). Dafür bekommt Landeshauptmann Markus Wallner öffentlich den Kopf gewaschen – und zwar vom Sprecher der Armutskonferenz Michael Diettrich. Ein wohltuend klares Statement, zum Glück gibt es in Vorarlberg auch diese Stimmen. (Presseaussendung Vlbg. Armustkonferenz)
„Der Seuche ihre Zeit“, schreibt Doron Rabinovici im Falter und beendet seinen bemerkenswerten Aufsatz mit einem Blick auf das Wort Corona: „Es braucht eine genaue Analyse, viel Skepsis und noch mehr Ironie. Und Geduld, denn bekanntlich ist Corona in der Musik ein alter Begriff für eine Fermate, fürs Ruhezeichen in Form einer nach unten offenen Parabelkurve mit Punkt in der Mitte über einer Note, ein Innehalten. Ein wenig Geduld. Der Seuche ihre Zeit.“
Donnerstag 23. April | 880 Infizierte in Vorarlberg
Trotz der wieder geöffneten Geschäfte und der deutlich spürbaren Entspannung sind die Zahlen der Neuinfektionen sehr gering. Möge es so bleiben, auch wenn die Schulen allmählich wieder starten. In Rubens Schule macht die Französischlehrerin einen ersten Schritt in die Richtung und bietet Unterricht in der Klasse mit Kleingruppen von vier Schüler*innen an. Freiwillig natürlich. Mein Sohn überrascht mich, weil er sich darüber freut und sofort zusagt. Das ist seit der ersten Klasse Volksschule das erste Mal, dass er freiwillig zur Schule gehen will. Damals war er nach etwa sechs oder acht Wochen fertig mit dem Experiment Schule, seither hat er mir in regelmäßigen Abständen (zeitweise täglich) erklärt, dass er jetzt genug gelernt hat und nicht vorhat, noch länger dorthin zu gehen. Eine sechswöchige erzwungene Abstinenz hat es geschafft: Historisches Ereignis im Mikrokosmos unserer Familie sozusagen.
Ein weiteres ist die neu erwachte Lust, mit mir gemeinsam im Wald spazieren zu gehen. Das wäre vor einigen Wochen undenkbar gewesen, aber jetzt gehen wir oft am Abend zusammen eine kleine Runde und entdecken Höhlen, Wasserläufe, Abhänge und Wurzelwege. Dabei gehen Schlüssel verloren und Hosen kaputt, aber endlich kommt ein bisschen was von dem vor, was ich mir immer unter einer schönen Kindheit vorstelle. Den Wald entdecken, schmutzig und mit nassem Hosenboden heimkommen, und Holzstöcke, die sich vor der Haustüre stapeln, weil gerade das Schnitzmesser nicht auffindbar ist. Die Kindheit heute findet nicht mehr im Wald statt, das Durchschnittsalter der Waldbesucher*innen dürfte bei 50+ liegen. Unter 20-Jährige verirren sich nicht in den Wald, bestenfalls in Trainingsbekleidung.
Außerdem stellt Ruben heute eine interessante Rechnung auf – er fragt mich beim Frühstück nach meiner Schätzung, wie viele Leben wir wohl schon gelebt haben. Mir war neu, dass er sich bereits für die Reinkarnation als Weltbild entschieden hatte, aber was danach kam, fand ich umwerfend. An den Unbekannten in der Gleichung müssen wir noch arbeiten, aber: Er meinte, wir könnten die Sache einfach ausrechnen, indem wir die Zahl der aktuellen Weltbevölkerung mit der Zahl der Jahre vom Anbeginn des menschlichen Lebens in Beziehung setzen. Diese müssen wir durch die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschenlebens dividieren – das war die Stelle, an der wir mathematisch aus der Kurve geflogen sind. Zu viele Unbekannte in der Rechnung. Die Fragen dazu waren äußerst inspirierend, etwa, ob es immer gleich viele inkarnierte Seelen gab und gibt (aufgeteilt auf alle möglichen Lebensformen) und ob man wohl gleich nach dem Tod wieder inkarniert oder sich erst irgendwo von der Anstrengung erholen darf ... das Aussterben der vielen Arten würde auch den Anstieg der Weltbevölkerung erklären. Ich liebe dieses Kind. Hab ich das schon erwähnt?
Mittwoch 22. April | 879 Infizierte in Vorarlberg
Ich werde immer wieder daran erinnert, dass ich persönliche Erlebnisse berichten soll. Das ist aber gar nicht immer so einfach, nachdem dieses coronakonforme Leben nicht grade spektakulär verläuft. Die Routine besteht aus einem dreifach aufwändigerem Haushalt, langen Telefonaten mit Freundinnen und Freunden, täglichem Kochen, einkaufen mit Maske (die ich andauernd daheim vergesse) und dem ständigen Motivieren für Schulaufgaben, die mir schon auf die Nerven gehen. Ruben soll sich mit Balladen beschäftigen, ein Thema, das mich in meiner Schulzeit zutiefst gelangweilt hat. 40 Jahre später ist es immer noch der Erlkönig, den wir jetzt gemeinsam sezieren, weil er alleine damit nicht weiter kommt. Die Schönheit eines Werkes kann man damit für immer zerstören, so wie die Liebe zur Poesie, die vielleicht später entstehen würde. Kein 13-Jähriger lässt sich von einer der üblichen Balladen berühren, glaube ich.
Marina Abramovic spricht im Jahr 2015 in einem Ted-Talk über das, was sie für wesentlich hält: Veränderung auf persönlicher Ebene – der einzig möglichen, die wir haben. Wenn jemand glaubwürdig über solch profunde Erfahrungen berichten kann, dann ist sie das. Sie sagt, wir wiederholen die Dinge, die wir bereits kennen und die wir lieben. Damit vermeiden wir echte Veränderungen – um diese zu erreichen müssen wir die Dinge tun, die wir fürchten.
Ich habe ihre Biografie mit wachsendem Respekt gelesen und würde gerne hören, was sie heute zu sagen hat. Für 2020 ist eine Performance in der Royal Academy of Arts in London geplant – sie wird die erste Frau sein, die dort die Hauptausstellungsräume bespielen darf. Dazu wird sie sich selbst unter Strom setzen.
Wir können und sollen uns verändern, und das geht nur auf persönlicher Ebene. Meine eigenen Bemühungen auf diesem Feld haben mich bestenfalls Geduld gelehrt. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir stehen unter Strom, der gesamte Planet steht unter Strom, wir haben ihn und uns selbst erhitzt. Eine junge Frau sagte kürzlich zu mir: „Das ist die letzte Chance. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann kommt keine mehr.“
Charles Eisenstein behauptet in seinem sehr klugen Essay, dass für die Klimakrise keine der altbekannten Verhaltensmöglichkeiten funktioniert, weshalb der Mensch nicht in der Lage ist, auf eine so komplexe Bedrohung angemessen zu reagieren. Auf ein Virus können wir reagieren, weil es sich begreifen lässt: Man verhindert Ansteckung um jeden Preis und aus. Ich bin nicht sicher, was ich von Eisenstein in diesem Punkt halten soll, fürchte aber, dass er einen wichtigen Gedanken formuliert hat, das beschäftigt mich schon seit Tagen. Ich wäre eigentlich pragmatischer veranlagt und denke, wir kennen viele Antworten bereits.
Ich hoffe, wir finden gemeinsam eine angemessene Antwort, eine, die sich an einem der ältesten und schönsten Texte der Welt orientiert: dem Hohelied der Liebe.
Dienstag 21. April | 877 Infizierte in Vorarlberg
Die Kulturnation Österreich zeigt auch im Umgang mit Kulturschaffenden in der Krisenzeit ein unrühmliches Gesicht: Vollmundige Versprechungen zu Beginn, niemand sollte zurückgelassen werden, hieß es, aber die finanzielle Realität ist ein Desaster. Ich telefoniere mit meinem Steuerberater, der sich seit Tagen angesichts des bürokratischen Aufwands dieser Anträge die Haare rauft und die zugesagten Geldbeträge als eine einzige Frechheit bezeichnet. Ich frage mich, ob ich überhaupt ansuchen soll, obwohl klar ist, dass meine Auftragslage praktisch am Erliegen ist. Ich bin sicher, die Wucht dieses Finanzdebakels kommt erst zeitverzögert auf mich zu. Gleichzeitig stellt Herr Kurz bereits klar, dass an Vermögenssteuern nicht zu denken sei. Eh klar.
Nichtsdestotrotz habe ich mir ein Kunstwerk geleistet von Veronika Schubert, die seit Beginn der Krise ihre Arbeiten zum Thema veröffentlicht. Ich finde ihre Kollagen fantastisch, wie alles, was diese Künstlerin seit vielen Jahren macht.
In der Schweiz hat ein findiger Heimleiter eine einfache Möglichkeit der Begegnung geschaffen – die Stadt Salzburg geht voran und stellt ebenfalls solche Boxen auf.
Die Pflegeheime in Vorarlberg bieten Videotelefonate für die Angehörigen an, für die man jetzt extra Laptops besorgt hat. Übergangsweise. Ich will das nicht kritisieren, es ist ein wichtiger Schritt. Ich bin ehrlich gesagt davon ausgegangen, dass Internetzugang auch für Bewohner*innen zur Grundausstattung einer öffentlichen Einrichtung im Jahr 2020 gehört. Vielleicht ist das noch eine Generation, die nicht täglich im Internet surft, aber in ein paar Jahren wird wohl kaum jemand einen Heimplatz akzeptieren, wo Internet nicht zur Ausstattung gehört.
Angekündigt werden jetzt die schrittweisen Lockerungen der Maßnahmen ab Mai. Schulen, Gastronomie und Grenzen, genaueres erfahren wir noch, heißt es.
Ich für mich habe festgestellt, dass ich weit weniger soziale Kontakte brauche, als ich dachte. Ich bin ganz zufrieden, so wie es ist, allerdinge lebe ich nicht alleine und Umarmungen und Berührungen gehören bei uns zum Alltag. Menschen brauchen Berührungen, um gesund bleiben zu können – das ist vielleicht eine der Antworten auf die Frage, was wir wirklich brauchen. Ja, und Baumärkte und McDonalds, wenn man die leeren Geschäfte in der Innenstadt sieht und die Autoschlangen vor den besagten Unternehmen.
Montag 20. April | 875 Infizierte in Vorarlberg
Während die Menschheit es zulässt, dass die grüne Lunge der Erde brennt, bedroht ein Virus die Lungen der infizierten Menschen. Die Sprache des Universums ist sehr präzise.
Ein anderer Wald brennt auch, 46.000 Hektar in Tschernobyl. Vor drei Tagen war in den Medien zu lesen, es werde dabei keine Radioaktivität freigesetzt. Sind die Journalisten naiv? Werden sie bedroht? Wird ihnen vorgeschrieben, was sie zu schreiben haben? Und warum? Heute wird in denselben Medien vor dem radioaktiven Rauch gewarnt. Dauert es drei Tage, bis Radioaktivität messbar wird? Brauchen die Krisenkommunikationsgremien drei Tage, um ihre Strategie zu entwickeln? Oder kam ihnen die Erkenntnis, dass man so etwas vielleicht einfach nicht verheimlichen kann?
Ein peinlich berührter Landespolizeidirektor versucht einen Vorfall zu entkräften, bei dem ein Polizist Schüsse in die Luft abgegeben hat, weil er verdächtige Spaziergänger in Nenzing gesichtet hat. Es ist eine weitere Vorführung, wie unmöglich es manchen Führungskräften ist, Fehler einzugestehen. Menschen dürfen Fehler machen, auch Polizisten (obwohl dieser Fehler definitiv zu weit geht). Erklärungen über leere Batterien in Funkgeräten sind zum Fremdschämen.
Dänemark macht es vor: Dort werden Unternehmen dann unterstützt, wenn sie Steuern im Land bezahlen und auf Dividendenauszahlung und Aktienrückkäufe verzichten. Was denn sonst, bitte? Österreich?
Ach, und Deutschland kauft US-Kampfjets für einige Milliarden. Jetzt.
Sonntag 19. April | 872 Infizierte in Vorarlberg
Ich lebe in unmittelbarer Nähe von zwei geschlossenen Ländergrenzen und merke, dass mir das mehr und mehr zusetzt. Diese Grenzen trennen mich von Freundinnen, Freunden und von meiner Schwester. Natürlich sind wir über Telefon und Internet in Kontakt, aber ich renne gedanklich an dieser Einschränkung an, die ich in meiner Lebensspanne noch nie erfahren musste. Wir wachsen in Österreich mit dem Selbstverständnis auf, dass wir überallhin reisen können, außer vielleicht nach Saudi-Arabien und Nordkorea. In Saudi-Arabien habe ich einen Großteil meiner Zeit verbracht, als ich Flight Attendant war, diese Grenze kann meinetwegen geschlossen bleiben. Aber dass jetzt drei Kilometer weiter, in Fahrraddistanz, Schluss ist, das ist ziemlich unheimlich. Ich komme immer wieder zeitverzögert zu solchen Erkenntnissen, weil ich Einschränkungen für eine gewisse Zeitspanne ohne inneren Widerspruch hinnehmen kann. Aber es gibt so einen eigenen Rhythmus in den Dingen, und irgendwann ist der Bogen überspannt. Meinen individuell wahrgenommenen Bogen meine ich – nicht der wissenschaftlich begründete oder der politisch erlassene. Wir starten jetzt in Woche 6, es gibt aktuell kaum mehr Neuinfektionen, und 1 bis 2 Meter Distanz kann man auch mit deutschen Staatsbürger*innen wahren, finde ich. Selbst wenn sie rüberkommen oder wir nach Lindau fahren. Auch mit Schweizer*innen, sogar mit meiner Schwester. Ich mag nicht mehr gelobt werden von Herrn Wallner oder von Herrn Anschober, ich mag auch nicht in Aussicht gestellt bekommen, dass alles wieder heruntergefahren wird, wenn wir nicht spuren. Diese homöopathische Version schwarzer Pädagogik gehört einer Zeit an, als die Grenzen zuletzt dermaßen verschlossen waren, dass es für viele tödlich endete. Ich mag wieder selbst verantwortlich sein, auch wenn das bedeutet, dass ich mich im Bauhaus mit einem drängelnden Mann an der Kassa zoffen muss, weil er einen Meter Abstand nicht einschätzen kann. Die Frau an der Kassa war übrigens schon total genervt und sagte: „So geht das den ganzen Tag.“ Ich möchte mich gegen Überwachungs- und Gesichtserkennungssoftware auflehnen, gegen den erbärmlichen Umgang mit Flüchtlingen in Österreich, gegen die ewige Aufschiebung von Korruptionsverfahren (wann geht der Karl-Heinz Grasser nochmal ins Gefängnis?), gegen die Verschleppung der Ibiza-Affäre, und ich möchte weder Bill Gates im Fernsehen sehen müssen noch die Dauerdummheiten aus dem Weißen Haus. Das alles sind private Wünsche an eine höhere Macht, bitte nicht missverstehen. Ich bin immer noch froh, hier in Österreich zu leben und dankbar, dass die Situation nicht eskaliert ist, weil wir alle früh genug Ruhe gegeben haben.
Ich ziehe Menschen wie Vandana Shiva vor, deren aktuelles Statement zur Pandemie vor Kurzem auf Facebook zu sehen war und die auch all die Jahre zuvor immer die Dinge auf den Punkt gebracht hat. Als Wissenschaftlerin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises ist sie weit entfernt von Verschwörungstheorien, sie recherchiert gründlich und kennt die Mechanismen in ihrem Land Indien. Hier rückt sie das altruistische Bild von Bill Gates und dessen Stiftung zurecht.
Niemand braucht mehr Geld, als dem eigenen Wohlbefinden förderlich ist – außer man will das Weltgeschehen steuern, eine weitverbreitete Hybris, die anscheinend ansteckend ist. Eine Hybris, die auch bei unserem viel zu jungen Bundeskanzler sichtbar ist. Er hat seine Sache gut gemacht, aber ich fürchte, er zieht daraus die falschen Schlüsse über seine Person. Es gibt gesellschaftlich anerkannte Störungen, die wir deshalb nicht mehr beim Namen nennen, weil sie als Motor für Erfolg gelten. Corona, lass kluge und mit Herz gesegnete Frauen und Männer an die Macht. Ein paar mehr Frauen, wenn möglich.
Samstag 18. April | 870 Infizierte in Vorarlberg
Tag 34, keine (!) Neuinfektion, 668 gelten als genesen. Gestern hätte unsere Baumpflanz-Aktion über die Bühne gehen sollen, ein Teil des Theaterstücks „Who cares? Welche Krise?“. Gemeinsam mit dem Publikum von elf Vorstellungen hätten wir uns aufgemacht, unterstützt von der Stadt Bregenz und der Waldschule Bodensee, um etwas ganz Konkretes gegen den Klimawandel zu tun. Das war kein Stück, das man einfach so vergessen sollte, es war ein Stück mit Handlungsmöglichkeit: Vivienne und Nico, die beiden Darsteller, nahmen die Sache in die Hand, mit dem Publikum in Verbindung zu bleiben. Alle, die ihre Mailadressen hinterlassen hatten, wurden kontaktiert, weil uns diese eine Frage bewegt – wie kehren wir den Klimawandel um, rechtzeitig und effizient?
Durch die anhaltende Trockenheit ist jetzt alles voll mit gelbem Blütenstaub, unsere Terrasse, das Haus, die Straßen, das Auto. Experten schreiben in den Zeitungen, dass die Bäume viel zu viele Blüten produzieren. Das tun sie, wenn sie gestresst sind. Während ich das schreibe, fängt es endlich an zu regnen. Erleichterung. Ich hoffe, es regnet lange und viel, entgegen der Vorhersage.
13.640.756.852 Bäume haben Felix Finkbeiner und seine Unterstützer*innen mit der Initiative „plant for the planet“ inzwischen gepflanzt. 13,64 Milliarden – aus einer weltumspannenden Aktion, die von Kindern und Jugendlichen getragen wird.
Ich spende für jeden Flug, den ich buche, an „plant for the planet“ – allerdings kann ich mir derzeit gar nicht vorstellen, je wieder in ein Flugzeug zu steigen, so weit weg ist das alles. Ich werde mich selber Lügen strafen, ich weiß es jetzt schon – Reisen ist mir wichtig. Trotzdem hat mich diese Zeit verändert, ich bin gespannt, wie sich das tatsächlich auswirken wird, sollten wir in absehbarer Zeit alles wieder ungehindert tun können (und auch noch Geld für schönen Unsinn haben). Ich bin immer gerne einkaufen gegangen und liebe schöne Dinge – aber neuerdings fehlt mir einfach gar nichts. Geschäfte sind mir verleidet. Vielleicht ist das nur vorübergehend, aber es würde dem Planeten guttun, wenn wir in den wohlhabenden Ländern alle etwas weniger bräuchten.
Auch die umweltfreundliche Web-Suchmaschine „Ecosia“ führt eine ständig wachsende Zahl an gepflanzten Bäumen auf ihrem Ticker, derzeit steht diese bei 91.084.500. Jede Suchanfrage generiert ein Budget für Baumpflanzaktionen.
Bei Ecosia sollten auch schon ein paar Bäume auf mein Konto gehen, ich verwende das Programm seit 2011. Jedenfalls: Wir werden auch unsere „who cares“-Bäume in Bregenz noch pflanzen, selbst wenn es Herbst oder sogar Frühjahr 2021 wird – das Virus hat dem Klima vorerst mehr geholfen als es unsere noch jungen Pflänzchen hätten tun können.
Freitag 17. April | 870 Infizierte in Vorarlberg
665 von den Erkrankten gelten inzwischen als genesen. Die Möglichkeit, sich in Vorarlberg mit Corona anzustecken, scheint ziemlich gering zu sein. Am Montag gehen die ersten Krankenhäuser wieder in Vollbetrieb, die Ambulanzen bleiben geschlossen, auch das Besuchsverbot bleibt bestehen. Mitte Mai dürfen Museen wieder öffnen und kleine Events stattfinden, für Großveranstaltungen sieht es bis Ende August schlecht aus. Ich hab’s ein bisschen satt, dauernd die Nachrichten zu hören, es ist schon wieder alles so österreichisch. Wer Mindestsicherung bezieht, etwa auch Alleinerzieher*innen, ist vom Familienhärtefallfonds ausgeschlossen, das trifft 80.000 der ärmsten Kinder – diese Logik erschließt sich mir überhaupt nicht, sie macht mich aber wütend. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass jeder investierte Euro, der dafür sorgt, dass Familien sich über Wasser halten können, sich 7-fach bezahlt macht. Kinderarmut in einem Land wie Österreich ist peinlich, weil es vollkommen klar ist, dass sie nicht sein müsste. Ich bin nicht sicher, wie wir alle in zwei, drei Jahren dastehen werden, ich weiß nur, dass eine Finanzkrise wieder verdecken wird, dass die echte Bedrohung eine weitreichendere Wucht entfalten wird.
Warum brennt es eigentlich überall dort, wo rechte Regierungschefs die Klimakrise leugnen? Über den Urwald im Amazonasgebiet mag ich schon gar nicht mehr nachdenken, wer immer dort brandrodet, sollte vor einem Kriegsgericht stehen. Es ist Krieg gegen eine Natur, die unser eigenes Leben schützt. Derzeit wütet auch in Tschernobyl ein Waldbrand und führt in Kiew zu einer der schlimmsten Luftverschmutzungen, die je gemessen wurden. Die Menschen sollen in den Häusern bleiben und die Fenster nicht öffnen. Aber nein, das Feuer setzt sicher keine Radioaktivität frei.
Why is it taking so long to believe that if we hurt Nature, we hurt ourselves? Davi Kopenawa, Yanomami
Also jetzt was Schönes: Meine Bitte an die Aktion-Demenz-Gemeinden um Geschichten zum Zusammenhalt bringt viele schöne Beispielen zutage. Die Menschen sind engagiert, viele Ehrenamtliche haben sich sofort gemeldet, um Einsamkeit überbrücken zu helfen und praktische Probleme zu lösen. Die Caritas berichtet über ein Projekt, das allein in Vorarlberg 540 Freiwillige in Kontakt mit einsamen Menschen bringt – und neben all den organisierten Angeboten zur Freiwilligenarbeit über Sozialsprengel und Gemeinden findet schlicht und einfach auch Nachbarschaftshilfe statt, weil sie für die meisten von uns selbstverständlich ist.
Unsere Filmabende werden humorvoller, gestern haben wir „Manche mögens heiß“ gesehen. Ruben möchte den Film am nächsten Tag gleich nochmal sehen. Filme aus den 1980er Jahren sind fast nicht mehr anzuschauen, aber Billy Wilder hatte 1959 das Tempo und die Intelligenz, die vermutlich 100 Jahre überdauern. Dass er ein großer Meister der Filmkunst war, ist bekannt, aber es ist nicht selbstverständlich, dass der Film selbst für einen 13-Jährigen im Jahr 2020 noch grandios ist.
Donnerstag 16. April | 866 Infizierte in Vorarlberg
Ich amüsiere mich, weil mein Sohn am Telefon noch immer von Corona-Ferien spricht, obwohl er täglich einige Stunden an Schulaufgaben sitzt. Das liegt daran, 1dass wir erst um 9:00 Uhr aufstehen und zuerst mal eine Runde lesen. Das zeichnet Ferientage aus, Schulzeit bedeutet, halbverschlafen und im Dunkeln aus dem Haus zu hetzen. Viel zu früh. Jetzt wäre die Zeit, Schule neu zu denken, ich finde, es funktioniert einiges richtig gut; und die Idee, kleine Gruppen für zwei Stunden in die Schule zu holen für Input, das könnte meinetwegen im Regelbetrieb eingeführt werden.
Denkwürdige historische Ereignisse aus den USA: Seit 18 Jahren ist es einen ganzen Monat lang zu keiner Schulschießerei gekommen. Keine toten Schüler*innen durch Amoklauf.
Trump sorgt wieder einmal für Schlagzeilen, weil er die WHO nicht mehr unterstützen will und die Organisation beschuldigt, sie hätte ihren Job nicht gemacht. Ich denke, die Kernbotschaft steckt im ersten Teil des Satzes: Er braucht Schlagzeilen. In ein paar Wochen hat man sich geeinigt und er bezahlt wieder. 37 Millionen Amerikaner*innen konnten sich schon vor der Krise nicht ausreichend ernähren, diese Zahl wird sich verdoppeln, berichtet der Tagesanzeiger – in einigen Bundesstaaten werden ganze Ernten vernichtet, weil das Verteilsystem zusammengebrochen ist, während Millionen Amerikaner*innen hungern. Die (angeblich) führende Nation der westlichen Welt hat ein paar gravierende Baustellen, aber berichtet wird über kindische Schuldzuweisungen eines unreifen Präsidenten.
In Indien sieht es mit der Nahrungsversorgung auch prekär aus, die Erntehelfer fallen aus und die Bauern können ihre Waren nicht vertreiben. Das kann eine Hungerkatastrophe auslösen, die weit größere Schäden verursacht als das Virus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass solche Struktur-Zusammenbrüche keine Auswirkungen bei uns haben werden.
Ich hantiere inzwischen mit zwei Laptops im Homeoffice und bin neuerdings mit zwei Smartphones ausgestattet. Ich habe mehrere Tätigkeitsfelder – da jetzt alles nach Hause verlagert ist, bin ich froh um die bessere Ausstattung und klare Trennung, aber ich merke auch, dass es mich stresst. Der Schreibtisch gleicht langsam einer Kommandozentrale und mein Sohn macht sich lustig über mich. Er sieht die Sache ganz entspannt, die Lehrerinnen schicken seit Dienstag Unmengen an Aufgaben, er liest in Ruhe sein spannendes Buch zu Ende. Ich muss was von ihm lernen, glaube ich.
Mittwoch 15. April | 861 Infizierte in Vorarlberg
Ich weiß nicht, warum mir die letzten Tage immer wieder eine Geschichte einfällt, die mich vor vielen Jahren sehr beeindruckt hat. Vielleicht, weil ich kürzlich gehört habe, dass Mauricio Wild gestorben ist. Rebeca und Mauricio Wild haben mit ihrer Arbeit die Idee der Pädagogik in vielerlei Hinsicht revolutioniert. Auch in ihrer Schule in Ecuador gab es immer wieder Kinder, die kleine Sachen gestohlen haben. Während anderswo die Kinder dafür gescholten werden, erhielten sie in der Wild-Schule einfach mehr Aufmerksamkeit, ohne ihre kleinen Vergehen offenlegen zu müssen. Sie wurden mehr beachtet, erhielten kleine Geschenke – einfach so – und wurden mehr gelobt. Ihr Verhalten war für das Ehepaar Wild ein Zeichen psychischer Not, die für eine gewisse Zeit mit mehr Zuwendung behandelt wurde. Ihr Vorgehen war zu 100 % erfolgreich, und auch wenn es unterschiedlich lang dauerte, alle Kinder hörten auf zu stehlen und begannen irgendwann, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Die Erwachsenen waren darin geschult, das Beste in den Kindern und Jugendlichen zu sehen und es hervorzubringen. Bei uns in Vorarlberg arbeiten viele Lehrerinnen und Lehrer nach diesem Prinzip und ich habe das Glück, einige von ihnen näher zu kennen.
Eine ähnliche Geschichte wird von einem afrikanischen Stamm berichtet, der diejenigen Dorfbewohner*innen, die Unrecht getan haben, in die Mitte eines Kreises setzen. Dann beginnt jeder und jede, ihm eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte handelt davon, wie er irgendwann einmal Gutes bewirkt hat, vielleicht weil er jemandem geholfen hat, weil er ein Lächeln verschenkt hat, egal was. Er hört in dieser Stunde lauter positive Dinge, die er mit seinem Verhalten im Leben eines anderen bewirkt hat.
Es sind heilsame Geschichten, die mir gut tun, weil ich an sie glaube. Ich mache diese Erfahrung im Umgang mit meinem Sohn, der weder klaut, noch sonst irgendwie auffällig ist – aber auch er braucht es, dass man das Beste in ihm sieht und es ihm auch sagt. Ich finde jedes Kind hat ein Recht darauf, zumindest einen Erwachsenen muss es geben, der bereit ist, ihm das Gute zu spiegeln. Der Historiker Rutger Bregman behauptet im Zeit Magazin Ähnliches, weit wissenschaftlicher, aber es läuft doch auf dasselbe hinaus. „Das Menschenbild ist die Grundlage jeder Ideologie. Wenn es (das Bild) sich ändert, ändert sich alles“, sagt er und hält einen Wertewandel für möglich.
Und ich stelle fest, dass ich vermehrt nach Nachrichten fahnde, die meinem Weltbild entsprechen und es bestätigen. Heute ging beispielsweise durch die Medien, dass die von mir bereits hochgelobte Premierministerin Jacinda Ardern und ihre Minister*innen auf 20 % ihres Gehaltes verzichten. Ich finde, wir hätten ein Recht darauf, dass Menschen mit solchen Qualitäten in den Regierungen sitzen. Herrn Kurz’ Arroganz, was Verfassung und Gerichtsbarkeit angehen, hängt mir zum Hals heraus. Und noch so einiges mehr. Ich machte heute eine kurze Besorgung für die alte Dame, die derzeit im Pflegeheim wie in Haft sitzt – ich kann es nicht anders sagen. Sie darf nicht raus und brauchte eine blöde Batterie für ihre Uhr, weil sie es eben gewohnt ist, auf ihr Handgelenk zu schauen. Was wir heute aufführen mussten, um die paar Sachen, um die sie mich gebeten hat, in ihre Hände zu bekommen, war beschämend. Sie war so empört, weil andere Bewohner des Heims unbehindert nach draußen spazieren, einfach weil sie sich nicht an Regeln halten. Sie hingegen bleibt vernünftig, geduldig und unglücklich. Sie durfte heute kein Wort mit mir wechseln, obwohl der Abstand leicht einzuhalten gewesen wäre. Ich als rüstige Seniorin im Pflegeheim würde mir, glaube ich, einen Anwalt nehmen, Schutz hin oder her, irgendwann muss man die Sache beim Namen nennen: Das grenzt an Freiheitsberaubung.
Noch ein zumindest minimales positives Fundstück von heute: Die Niederlande setzen Tiertransport wegen Corona aus. Auch Anschober stellt sich öffentlich gegen Tiertransporte. Sein Wort in wessen Ohr?
Auf die Räumung der elenden Lager in Griechenland müssen wir noch warten, jeder weitere Tag ist eine Verlängerung der Schande für Europa.
Dienstag 14. April | 858 Infizierte in Vorarlberg
Irgendwie sind heute alle wieder richtig lebendig geworden: die Schule mit gleich zwei Zoom-Treffen und einem ganzen Schwung neuer Aufgaben, Arbeitskolleginnen mit Ideen und Fragen, sogar die alte Dame im Pflegeheim hat mich angerufen und um einen Gefallen gebeten. In V-Heute wird berichtet, dass es nur einen Neuinfizierten gibt – zumindest ist das die Anzahl der offiziell getesteten Menschen. Ich freue mich immer über den Blick hinter die Kulissen der ORF-Isolationszonen – man erlebt die Profis so halb privat, das macht sie menschlicher. Aber es ist noch etwas anderes ... diese Teams wirken in der Isolation wie etwas zwischen netter WG ohne Big Brother-Aufgaben und Kriegsberichterstatter, die sich freiwillig isolieren, um unter allen Umständen ihren Job machen zu können.
So ähnlich diffus kommt mir die ganze Situation vor. Die drohenden Überwachungs- und Freiheitseinbußen, die nicht recht greifbar, weil vorerst nur angekündigt sind, versus leise Hoffnung, dass am Ende alles irgendwie wieder normal wird, und auch die Furcht davor, dass es nur wieder die alte Normalität sein wird. Diese hat so viele Risse und Bruchstellen, dass wir als globale Gesellschaften an zu vielen Stellen unsere Kraft und unsere Integrität verlieren. Ob wir das zur Kenntnis nehmen oder nicht, ist egal. Während ich das schreibe, wird der Amazonas mit voller Kraft niedergebrannt und indigene Anführer und engagierte Waldschützer werden kaltblütig ermordet.
Die Pharmaindustrie wittert ihr Jahrtausendgeschäft und träumt mit Bill Gates als Sprachrohr von Massenimpfungen. Das versucht sie – soweit ich mich daran erinnere – schon seit der Schweinegrippe, aber bisher wollte es nicht recht klappen. Der freie Wille gerät ganz schnell unter die Räder, wenn mit der Keule eines (fragwürdigen) Herdenschutzes geschwungen wird. Diese schöne alte Normalität war schon eigentlich als Kriegsszenario für meinen Geschmack ausreichend. Dazu kommen noch die vielen Länder auf der Welt, in denen wirklich Bomben fallen. Aber bei uns ist alles vergleichsweise gut: Die Geschäfte öffnen, die Vorarlberger Bevölkerung hält sich zurück, nur die Gartencenter und Baumärkte werden stark frequentiert. Das ist nicht überraschend, die werden auch ohne Corona-Abstinenz im Frühjahr gestürmt. Überraschend ist auch der vorsichtige Umgang der Menschen untereinander mit Abstand und Geduld, die Sensibilisierung hat offensichtlich gewirkt.
Rudolf Anschober steht Rede und Antwort und kündigt auch das schrittweise Hochfahren der Krankenhausbetriebe an. Also darf man ab jetzt auch wieder ganz normal krank werden und Unfälle haben, und ganz bald auch wieder Menschen vermissen und Familie oder Freunde treffen wollen.
Heute ist ein Glückstag, weil wir bei zwei Flaschenkindern assistieren dürfen. Ein Freund hat eine Schafherde und unter anderem zwei neugeborene Lämmer, die von den Muttertieren verstoßen worden sind. Sie müssen alle vier Stunden gefüttert werden. Wir machen daher einen Ausflug in den Bregenzerwald und sollen die Kleinen nicht nur streicheln, sondern ihnen auch die Flasche geben. Alles im passenden Abstand und vorwiegend draußen. Rubens Herz schlägt für jedes Tier und er hat eine ruhige Hand im Umgang mit ihnen – er ist glücklich, ein Stall voller Lämmer ist wirklich bezaubernd, und die Kleinen haben keine Berührungsängste. Sie nuckeln an Schuhbändeln, Ohren und Fingern und klettern mit wackeligen Beinen auf Rubens Knie. Auf dem Heimweg reden wir wieder einmal über vegetarisches Essen. Er steht ganz klar zu seinem Fleischkonsum, ungeachtet der herzigen Tierbabys – ich werde also meine vegetarischen Gerichte weiterhin alleine essen. Recht hat er. Stattdessen fantasieren wir laut über kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten, um die beiden Lämmer bei uns aufzunehmen, bis sie groß genug sind. Die Terrasse bräuchte einen hohen Zaun, das Wohnzimmer müsste mit Stroh ausgelegt werden, einen Garten hatten wir zwar früher, aber jetzt müssten wir täglich bis zur nächsten Wiese laufen ... Ruben wäre bereit, sein Zimmer herzugeben, aber ich fürchte um den Parkettboden. Ein Ministall auf der Terrasse wäre nötig …
Ostermontag 13. April | 857 Infizierte in Vorarlberg
Ab morgen werden die kleineren Geschäfte wieder geöffnet, die Hafenanlagen ebenfalls, die Boote dürfen wieder raus auf den See. Ich bin mir sicher, dass die Heimwerkergeschäfte und Gärtnereien einen ziemlichen Zulauf haben werden. Ich habe in meinem Leben selten so wenig Geld ausgegeben wie in den letzten vier Wochen und muss feststellen, dass mir immer noch nichts fehlt. Außer Lebensmittel haben wir in der Zeit der Sperre nichts gekauft außer zwei Bücher und ein paar Filme über amazon prime. Eine auto- und einkaufsfreie Zeit würde mir jährlich einmal gut gefallen, damit ließe sich die Fastenzeit vor Ostern erweitern. Aber ohne das Wissen, dass gerade Milliarden von Menschen gleichzeitig nicht oder sehr wenig konsumieren, ist es vermutlich nicht mehr dasselbe. Nicht dass es mir jetzt leid täte, wenn wieder etwas Normalität einkehrt, die ist wohl dringend nötig. Aber ich fürchte, dass wir eventuell nicht einmal die Hälfte von dem mitnehmen, was wir aus einer globalen Erfahrung lernen könnten.
Ich bin inzwischen ein Fan von Premierministerin Jacinda Ardern, die Neuseeland souverän durch die Krise führt. Auf meiner persönlichen Skala erhält sie die uneingeschränkte Bestnote, alleine dafür, wie sie den Kindern erklärt hat, was sie in diesem besonderen Jahr vom Osterhasen erwarten dürfen und was nicht. Bis jetzt sind in Neuseeland 4 Tote zu beklagen und an die 1000 Infizierte bei 5 Millionen Einwohner*innen. Das ist eine ganz besondere Frau, ich würde ihr meinen privaten Nobelpreis für Charakter und Führungsqualität verleihen. Wir Frauen sollten damit beginnen, unsere eigenen, hochdotierten Auszeichnungen zu vergeben, einfach weil.
In der NZZ erscheint eine Fotostrecke von Drohnenaufnahmen, wie wir die Welt nicht mehr sehen werden. Menschenleer. Es würde nicht lange dauern und die Natur könnte damit beginnen, sich der Bauten zu bemächtigen. Ich erinnere mich an die düstere Ästhetik und Poesie, die in einer Dokumentation aus Tschernobyl zu sehen war. Überwucherte Gebäude und eine wiederhergestellte Natur, nachdem die Tiere ganze Arbeit geleistet hatten.
Wir haben trotz allem auch einiges gearbeitet die letzten Wochen, inzwischen konnten wir die neue Website unseres zukünftigen Literaturhauses veröffentlichen – gleichzeitig mit dem coronatauglichen Projekt eines grenzüberschreitenden Briefwechsels. Am Start sind derzeit zwei Paare, es werden noch einige dazukommen, denn auch das Literaturhaus Liechtenstein steigt mit ein. Die Briefe sind bis jetzt einmal hin- und hergeschickt, und dies ist eine klare Leseempfehlung: https://literatur.ist/
Ostersonntag 12. April | 852 Infizierte in Vorarlberg
Unser Osterfrühstück fällt bescheiden aus, weil M. fastet und ich nur reduziert esse. Ruben hat keine Zeit zum Essen, er muss das Osternest suchen. Außerdem hat ihm seine Freundin am Abend vorher ein kleines Nest irgendwo vor dem Haus versteckt, das er mit ihrer telefonischen Instruktion finden muss. Ich sehe sein glückliches Gesicht und finde das Mädchen umwerfend. Für Dienstag haben die Lehrerinnen zu einem Zoom-Meeting eingeladen, um uns mitzuteilen, wie es weiter gehen soll. Selbst mein Sohn wünscht sich zurück in die Schule, und das will was heißen. Nachdem wir am Tag zuvor einen langen Fahrradausflug gemacht haben, bleiben wir heute zu Hause. Man begegnet unterwegs doch ziemlich vielen Menschen und der Abstand kann nicht immer gewahrt werden.
Es ist der zweite öffentliche Auftritt des Papstes im leeren Petersdom anstatt im Freien auf dem Petersplatz; das Bild des Pontifex ohne seine Gläubigen entwickelt eine eindrucksvolle Symbolik, finde ich. Vielleicht geht es nur mir so, aber dieses Bild wie auch das des leeren Pilgerortes in Mekka in Saudi Arabien hat sich tief in mir eingeprägt. Er fordert in der Ostermesse Schuldenerlass für die ärmsten Nationen wie auch ein Ende des Egoismus und, mein Highlight: ein universales Grundeinkommen. Ich bin schon lange aus der Kirche ausgetreten, aber dieser Papst hat mich schon mehrmals darüber nachdenken lassen, wieder einzutreten. Er mag einer Organisation angehören, die ein sehr schwieriges Machtgefüge und eine blutige Geschichte repräsentiert, aber er ist immer wieder überraschend lebensnah und vernünftig.
Aus China gibt es neue Erkenntnisse oder besser gesagt Vermutungen über das Virus, von denen ich inständig hoffe, dass sie sich als nicht wahr erweisen: Die Wissenschaftler haben nach Obduktionen verstorbener COVID-19-Patienten herausgefunden, dass das Virus in der Lage ist, das gesamte Immunsystem des Menschen lahmzulegen. Wollen wir hoffen, dass es seinen Wirt am Ende doch nicht töten will und sich deshalb in eine freundlichere Version seiner selbst entwickelt. Mit welcher Unbedarftheit ich bisher davon ausgegangen bin, dass der Spuk irgendwann vorbei sein wird. Nichts ist selbstverständlich.
Seit der Erfindung von Fake News und ihrer pandemischen Ausbreitung in den Weiten des Internets ist auch eine gemeinsame Realität nicht mehr selbstverständlich. Kürzlich hatte ich ein Telefonat mit einer Bekannten, die in Präsident Trump eine Art Heiland sieht, an unterirdische Deep State-Welten und Machenschaften glaubt und jetzt darauf wartet, dass alles ans Licht kommt, was die dunklen Mächte seit Jahrhunderten im Verborgenen treiben. Die Details dieser Geschichten sind sehr verworren und leider meist auch noch antisemitisch. Diese Gespräche hinterlassen in mir eine Art Verzweiflung, weil das einzige, was mir dazu zu sagen bleibt ein Eingeständnis ist: Jeder und jede darf sich eben seine oder ihre Wirklichkeit basteln und wir wollen uns trotzdem schätzen, irgendwie. Dank der globalen Vernetzung scheinen die Autoren dieser Verschwörungstheorien ganze Communities zu rekrutieren. Es war erst im Herbst, als ich unfreiwillig mit einigen sogenannten Reichsbürgern am Tisch saß und mir erklären lassen musste, welche Heldentaten Präsident Trump in Wahrheit vollbringe. Meine Geduld war recht bald erschöpft, weil ich mit Menschen, die mit angeblich geheimen und nicht verifizierbaren Informationen ins Gespräch eintreten, einfach nicht gerne rede. Es steckt immer eine gewisse Überheblichkeit hinter den kryptisch angedeuteten Zusammenhängen – und man hat nicht den Eindruck, als könnte das Gegenüber auch zuhören. Auch auf konkrete Fragen wird nicht geantwortet. Ich bin immer wieder überrascht, wie weit verbreitet diese Weltsicht auch in meiner näheren Umgebung ist.
Heute wurde der kleine Beitrag in V-Heute gezeigt, der auch auf dieses Tagebuch hinweist – ein erfreulicher Abschluss eines friedlichen Ostersonntags, den wir mit einem gemeinsamen Film beenden. Wir haben bis zum Ende der schulfreien Zeit vielleicht nicht alle Schulaufgaben auf die Reihe bekommen, aber mein Sohn kennt nun auf jeden Fall ein paar der wichtigsten Filme, die man in seinem Alter gesehen haben muss. Ich wäre ja dafür, Filmkultur in den Fächerkanon aufzunehmen und natürlich der Literatur wieder mehr Stellenwert zu geben.
Samstag 11. April | 843 Infizierte in Vorarlberg
Schlechte Nachrichten – in Südkorea sind Menschen, die als geheilt galten, erneut an Covid-19 erkrankt. Das macht meine selbstgebastelte Hoffnung zunichte, dass der Spuk wieder vergehen wird. Noch ernüchternder ist die Analyse eines wütenden Schweizer Arztes, der das teure Schweizer Gesundheitssystem anprangert und beispielsweise klarstellt, wie leicht über das Sterben anderer hinweggegangen wird und wie penetrant die Forderung nach dem Schutz der Wirtschaft gestellt wird. Wütend ist er deswegen, weil es 17 Jahre lang zahlreiche Hinweise gab, dass eine Pandemie sehr wahrscheinlich kommen werde und weil die Schweiz vollkommen unvorbereitet dastehe. Eines der teuersten Gesundheitssysteme hat Schutzmaterial für nur zwei Wochen und gefährdet damit diejenigen, die in einer solchen Situation dringend gebraucht werden.
Zum ersten Mal befasse ich mich mit der Möglichkeit, dass wir mit einer gewissen sozialen Distanz noch lange konfrontiert sein könnten. Wie gut meine mentale Abwehr funktioniert – ich komme einer inneren Überzeugung auf die Schliche, dass uns unser bisher gewohntes Leben doch irgendwie zusteht. Immerhin ist das die Welt, in die wir hineingeboren worden sind. Dass diese Welt nun für eine gewisse Zeit ausfällt, eine heilsame Zeit, in der wir die Chance hätten, das lieb Gewonnene, zu wenig Wertgeschätzte, zu Selbstverständliche wieder richtig einzuordnen – als großes Privileg. Langsam macht sich ein neues Bild in mir breit. Eines, das noch gar keine Farbe hat, es ist erst eine Bleistift-Skizze. Dabei wird mir allerdings schlecht.
Zu Hause hat es richtig gekracht. Das ist eher selten bei uns und deshalb bemerkenswert. Wir mussten kurz und durchaus lautstark klären, ob unser Haushalt als Nobelrestaurant zu verstehen ist, wo man dem Kellner das unerwünschte Gericht wieder zurückgibt und eine andere Bestellung ordert oder ob es sich doch eher um ein Zuhause handelt, wo gekocht und gegessen wird, was der Kühlschrank hergibt. Auf dem Speiseplan stehen ohnehin seit Jahren nur die ausgewählten Dinge, die dem Sohn auch schmecken. Heute war der falsche Zeitpunkt für Diskussionen mit mir, denn so viel gekocht wie in den letzten vier Wochen habe ich überhaupt noch nie. Ich war kurz davor, den Osterhasen abzusagen, bin dann aber stattdessen mit dem Fahrrad an die frische Luft. Mir ist klar, dass der Lagerkoller eines Kindes sich gerade beim Thema Essen entzünden kann. Wie gerne ich ihm wieder den Kontakt zu seinen Freunden ermöglichen würde ...
Lernen aus der Krise, Teil 1: Die Regierung hat jetzt verlautbart, dass sie den Ausverkauf von Schlüsselunternehmen stoppen will. Es gehe insbesondere um den Schutz von Unternehmen der kritischen Infrastruktur, etwa in den Bereichen Energie, Wasser, Lebensmittelproduktion, Technologie, Transport und Gesundheit. Wollen wir hoffen, dass die Erkenntnis noch weitreichender wirkt und eine Gehälteranpassung für die typischen systemerhaltenden Frauenberufe folgt. Üble Nachrichten kommen aus dem Süden Italiens, wo die Mafia begonnen hat, kostenloses Essen an Familien in Notlagen zu liefern. Klingt nett, kommt aber halt doch von der Mafia. Die Verbindlichkeit, die dabei entsteht, dürfte diese Familien teuer zu stehen kommen. Warum die Kommunen nicht schneller reagieren können als eine kriminelle Organisation ist mir nicht klar, dabei steht so viel auf dem Spiel.
Freitag 10. April | 828 Infizierte in Vorarlberg
Das ewig schöne Wetter ist wohltuend und beängstigend zugleich. Es herrscht schon jetzt Waldbrandgefahr, und ich erinnere mich an letzten Sommer, als Trinkwasser auf die Almen transportiert werden musste, weil es zu lange nicht geregnet hatte. Für mich war Vorarlberg immer der Inbegriff von Wasserreichtum, und dass es so schnell zu wenig werden könnte, hatte ich nie für möglich gehalten.
Ich möchte einen Osterblumenstrauß zu einer Freundin meiner Eltern bringen, wir halten seit über 15 Jahren Kontakt – so lange sind meine Eltern bereits tot. Jetzt lebt sie seit einigen Monaten im Pflegeheim. Ich rufe an und frage die Pflegerin, ob es möglich wäre, ein paar Blumen für sie am Eingang abzugeben, ich würde nur eine Karte hineinstecken – das sei kein Problem, wird mir versichert. Es kommt aber ein bisschen anders, weil die alte Dame Wind davon bekommen hat und mich bereits an der Eingangstür erwartet. Es wird ihr gestattet, auf der Terrasse zu bleiben, ein Handlauf trennt uns, wir stehen im vorgegebenen Sicherheitsabstand. So wird ein unerwarteter Besuch daraus, halt ohne Kaffee und im Stehen, ich mit Mundschutz. Besser geht es derzeit nicht. Ihre Lage ist traurig, sie darf nicht spazieren gehen und weil sie nicht zum Laufen kommt, baut sie ab, sagt sie mir. Auch geistig. Ihre Muskeln und ihre Erinnerung werden täglich schlechter, sie sehnt sich nach ihrer Wohnung. Sie hat nach einem Ohnmachtsanfall eingewilligt ins Heim zu ziehen, aber sie bereut es. Es wird nicht mehr gesungen, weil keine Musiker mehr auf Besuch kommen dürfen, alles im Heim ist ein bisschen eingeschlafen, ihr ist fürchterlich langweilig. Ihre Kinder sind natürlich auch zurückhaltend, Besuch ist nicht erlaubt, Telefonate erschöpfen sich bald, wenn der Alltag fad ist. Ich denke laut an eine Entführung, aber sie winkt ab. „Inzwischen lebt keine einzige meiner Freundinnen mehr“, berichtet sie. Die 90-Jährige wäre auch zu Hause einsam. Nach 20 Minuten kommt die eh sehr geduldige Pflegefachfrau aus dem Haus und bittet uns, das Gespräch zu beenden. Es schmerzt mich sehr, mit welchem Gesichtsausdruck die alte Dame (und das ist sie wirklich) ihre Fassung behält und sich bei mir verabschiedet. Ich nehme mir vor, ihr sehr bald wieder Blumen zu bringen.
Später lerne ich den Ursprung des Wortes Quarantäne kennen – der persische Mediziner Ibn Sina hatte sehr früh den Verdacht, dass bestimmte Krankheiten durch Mikroorganismen übertragen werden. Er lebte von 980 bis 1037, isolierte schon damals Erkrankte für 40 Tage und war offensichtlich erfolgreich damit. Händler aus Venedig brachten dieses Wissen mit nach Italien, wo es ebenfalls mit Erfolg angewendet wurde. Sie nannten die Methode „Quaranta“ – „die Vierzig“ auf Italienisch, daraus wurde das Hauptwort Quarantena.
Die BBC berichtet über das Ausheben von Massengräbern in New York. Ich weiß nicht, warum mich genau das so berührt, vermutlich habe ich immer noch ein falsches Bild von den USA. Dieses ist wohl noch das einer herrschenden Nation, eine, die nicht mit dem Rücken zur Wand steht. New York ist für mich ein Ort der Lebendigkeit und des Glücks, ich war oft und gerne dort. Massengräber auf Hart Island passen nicht dazu.
Donnerstag 9. April | 815 Infizierte in Vorarlberg
Wir haben es geschafft. Im Zimmer meines Sohnes befinden sich jetzt nur mehr Dinge, die er noch braucht, alles andere, von Spielsachen bis Kleidung, steht in drei ziemlich großen Taschen in der Garderobe. Dort werden sie noch bleiben müssen, fürchte ich. Damit wir uns nicht achtlos langer Jahre entledigen, sondern noch eine Zeit lang darüber stolpern.
Während des Fastens hat mich die Motivation verlassen, seine ist so oder so eher flüchtig. Heute war sie zurück. Wir befinden uns in einer großen Umbruchzeit, ein 13-jähriger Bub befindet sich auch ganz persönlich in einer Umbruchphase. Das ist eigentlich Lernaufgabe genug, es bräuchte keinerlei zusätzlichen Arbeitsblätter aus der Schule. Vielleicht gibt es auch eine Art globale Pubertät, in der kollektive Denkstrukturen noch einmal umgebaut werden, bevor ein verantwortungsbewusster und gelassener Homo sapiens erwacht. Einer, der durch Krisen sein Vertrauen gestärkt hat, anstatt sich dem Angst- und Mangeldenken zu unterwerfen. Welches Narrativ wird Ruben später seiner Erinnerung an diese Zeit voranstellen? Damals, als unser Lebensstil in den letzten Zügen lag? Damals, als wir in eine lange dunkle Zeitspanne voller Grenzzäune, Zwangsmaßnahmen und Armut schlitterten? Oder damals, als endlich weltweit begonnen wurde, Ursachen zu erkennen, anstatt immer nur Symptome zu behandeln? Damals, als die Märkte reformiert wurden, um eine gerechte Ökonomie zu schaffen? Dieses Virus werden wir vielleicht auch gar nicht mehr los und es will seinen Platz bekommen, so wie alles, was auf und rund um diesen Planeten vorhanden ist, seinen geschützten und ihm angemessenen Platz benötigt.
Wir sind ein einziger Organismus, die Erde, die Menschheit, die Tiere und Pflanzen, alles lebt und ist verbunden. Ich weiß es, weil mir das der Baum noch einmal versichert hat, der seinen Harzstempel auf meinem Mantel hinterlassen hat. Wir wissen es alle.
Ich mag mich wiederholen, aber das ist wichtig, weil es inzwischen an überraschenden Stellen auftaucht: Twitter-Gründer Jack Dorsey spendet eine Milliarde Dollar, zunächst für den Kampf gegen das Coronavirus (wie ich diese Kampfsprache verabscheue, die andauernd unreflektiert angewendet wird) – aber danach investiert er 28 % seines Vermögens unter anderem in das bedingungslose Grundeinkommen, verkündet der Mann. Er ist 3,3 Milliarden Dollar schwer, und jemand wie er kennt üblicherweise auch ein paar andere richtig reiche Menschen. Vielleicht spricht sich mit Mister Dorseys Stimme auch in diesen Kreisen langsam herum, dass die Zeit für neue Wege angebrochen ist.
Mittwoch 8. April | 811 Infizierte in Vorarlberg
Mein Sohn bringt seiner Schulfreundin online Mathe bei und ich höre ihm fasziniert zu. Er sitzt geduldig fast zwei Stunden mit ihr per FaceTime an den Aufgaben und führt sie Schritt für Schritt durch den Denkprozess. Danach kommt er strahlend und mit Hunger in die Küche. Währenddessen schäumt eine meiner Freundinnen am Telefon vor Wut, weil täglich Aufgaben über Aufgaben für die Kinder im Postfach landen. Die Lehrer*innen sieht sie Spaziergänge machen – das Landleben ist unerbittlich, man bleibt nicht unerkannt. Sie ist selbstständig und darf neben ihren Teamsitzungen über die berüchtigte Datenklau-Software Zoom noch das Zettel-Durcheinander von Seitenzahlen und Aufgabennummern sortieren, weil kleine Schulkinder das alleine nicht durchblicken. In den vier Wochen sei keine einzige Zoom-Stunde angeboten worden. Das Problem mit nicht zusammenstimmenden Aufgaben- und Seitenzahlen haben auch wir in einem bestimmten Fach und wir schimpfen ein bisschen gemeinsam, einfach weil es gut tut. Aber das sind Kleinigkeiten, die echten Probleme werden erst kommen.
Inzwischen erfahre ich von Pflegefachkräften, dass im Spital Überstunden abgebaut werden und viele zu Hause sitzen. Immer noch „Warten auf Corona“. Die Situation ist dermaßen absurd, Operationen und Behandlungen werden ausgesetzt, die Belegschaft in den Spitälern dreht Däumchen und natürlich kann man das als großen Erfolg einer umsichtigen Strategie sehen. Der Verlauf in Österreich ist sicher gemäßigt angesichts der Berichte aus anderen Ländern. Eine Freundin vermutet, wir sollen uns jetzt nach Ostern allmählich wieder anstecken, aber bitte nicht alle auf einmal, damit die Krankenhäuser den Ansturm bewältigen können. Sollten die Zahlen zu schnell nach oben gehen, kommt ein neuer Einschränkungserlass. Damit hat sie vermutlich Recht. Kogler versucht einen neuen grünen Vorstoß über die Medien und verkündet, er wünsche sich eine Erbschaftssteuer zur Krisenfinanzierung. ÖVP is not amused. Vielleicht darf jetzt auch eine türkisgefärbte ÖVP lernen, dass eine Krise solchen Ausmaßes selbst an ihren Glaubenssätzen kratzen könnte – das wäre eine echte Chance. Hier kann man gleich unterschreiben.
Tag 3 nach der Fastenzeit erlaubt mir wieder mehr Arbeitspensum, mein System fährt langsam wieder hoch, dafür hat M. jetzt angefangen zu fasten. Er hatte zuvor mindestens eine Woche lang heftige Kopfschmerzen und schon an Tag 2 ohne Essen ist er schmerzfrei. Den einfachen Trick mit dem Fasten haben wir als Gesellschaft einfach vergessen, physisch wie auch mental – ich hatte die letzten Jahre auch darauf vergessen und nehme mir vor, den jährlichen Rhythmus wieder ernst zu nehmen. Ruben hingegen hat die Eismaschine wieder in Betrieb genommen und produziert beinahe täglich selbstgemachte Sorbets, die er mit seinen fastenden oder durch Aufbaukost eingeschränkten Eltern nicht teilen kann – wenigstens freut sich die Nachbarin.
Dienstag 7. April | 793 Infizierte in Vorarlberg
Heute habe ich ein sehr berührendes Video auf Facebook gesehen: Da steht die gesamte Belegschaft eines Madrider Krankenhauses im Spitalsgang in einer Reihe und singt Mantras – um hoch zu vibrieren, wie die Bildunterschrift verrät. Ärzte, Ärztinnen, Pfleger*innen jeden Alters. Ich könnte heulen, so richtig scheint mir, was sie da tun, als würde in der tiefsten Dunkelheit altes Wissen einfach zur Verfügung stehen. Hohe Frequenzen bieten Schutz gegen Ansteckung.
Ich tappe selbst immer wieder in die Falle, Antworten zu suchen, dabei ist das Interessante an dieser Zeit, genau nicht zu wissen, was richtig ist. Das ist für viele so schwer auszuhalten und ich nehme mich nicht aus. Vielleicht ist eine App für eine gewisse Zeit richtig, selbst wenn sie verpflichtend ist. Das kratzt an meinem Vertrauen, ich will so etwas auf keinen Fall weiter auf meinem Smartphone wissen, wenn diese Krise vorbei ist – wohl wissend, dass ich schon mit dem Kauf eines solchen Gerätes alle Spionageprogramme freiwillig nach Hause trage, was jetzt in mir so großen Widerstand erzeugt. Naja, Vertrauen in Herrn Kurz fällt mir aber auch ganz besonders schwer, das gebe ich gerne zu.
England hat sich gerade erst freiwillig aus der EU verabschiedet, es ist zu hoffen, dass noch nicht alles über die Bühne gegangen ist und das Land noch auf EU-Hilfspakte hoffen darf. Die treibende Kraft dieses spektakulären Ausstiegs, Boris Johnson, liegt seit gestern auf der Intensivstation. In New York wird über temporäre Massengräber in Parks nachgedacht, wurde aber inzwischen wieder verworfen. Ein Alptraum im Zentrum der „globalen Macht“, so entblößt hat man sie noch nie gesehen. Es fehlt an allem, die selbstbewussten Herrscher der Weltmärkte können nicht mehr im Verborgenen agieren. In ihrer Verzweiflung gehen sie vor wie Kriminelle, um die benötigten Schutzanzüge, Masken und Beatmungsgeräte zu kapern. Der US-Ökonom, Aktivist und Politberater Jeremy Rifkin findet klare Worte, er glaubt an einen Bewusstseinswandel und den „New Green Deal“ – weil diese apokalyptische Erfahrung schlimmer ist als alles, was bisher geschah. „Wir betrachten uns vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte tatsächlich als vom Aussterben bedrohte Spezies.“ Es macht mir Hoffnung, dass er an die Lernfähigkeit einer kritischen Masse glaubt, weil ich auch daran glauben will. Es grenzt schon an Lernfähigkeit, wenn einer wie er in der Schweizer Handelszeitung publiziert wird.
Noch ein schönes Fundstück zum Thema Medizin: „Englische und deutsche Medien hatten sich über die schnelle Genesung des britischen Thronfolgers Prinz Charles überrascht gezeigt. Gestern wurde einer der möglichen Gründe bekannt: Prinz Charles wurde mit Homöopathie behandelt. Dr. Mathai, Leiter des Soukya Ayurveda Resort in Bengaluru, soll jetzt über das genaue Behandlungsverfahren berichten, eine Task Force werde die Untersuchungsergebnisse prüfen.“
Ich muss dazu erwähnen, dass eine ayurvedische Behandlung als einzige Therapie gegen meinen hohen Blutdruck zu 100 % erfolgreich war – was die Tabletten unserer westlichen Medizin nie zuverlässig schaffen. Leider hat mir meine Psyche einen Strich durch die Rechnung gemacht, nachdem die Pandemie losging und diverse Videos und Bilder von weinenden Ärzten auf Intensivstationen mich getroffen haben. Meine ayurvedische Ärztin ist am anderen Ende der Welt. Vielleicht sollte ich einfach mehr singen.
Montag 6. April | 771 Infizierte in Vorarlberg
Seit heute sind die Pläne für die Zeit nach Ostern bekannt, bis Ende April wird es so weitergehen wie bisher, außer, dass ab 15. April Geschäfte mit bis zu 400 Quadratmeter öffnen dürfen. Die Schubertiade trifft es hart – 15.000 Karten muss der Veranstalter zurückbezahlen, die Bregenzer Festspiele bangen noch.
Eine Freundin schickt mir einen klugen Text über das kollektive Unbewusste, das sich jetzt äußert, und ich finde viele Gedanken, die mir aus der Seele sprechen. Dass es kein Zufall sein kann, dass uns ein Virus zum Entschleunigen zwingt, weil auch wir Menschen dieses tägliche Zuviel nicht mehr aushalten, dass das Klima eine Pause braucht und dass das menschliche Unterbewusstsein das sehr genau weiß und darauf reagiert. Geschrieben hat den Text Mag. Gudrun Stadelmann-Wright, niedergelassene Psychotherapeutin in Los Angeles. Sie sagt, wir müssen jetzt zu Visionären werden, nicht zu Klempnern. Unsere globalen Spitzenpolitiker sind wie Kapitäne auf der Titanic, die den Eisberg leugnen und so tun, als könnte es helfen, Rohrleitungen zu reparieren.
Dazu fällt mir eines meiner Lieblingszitate von George Bernhard Shaw ein, der sagte: „Wir brauchen mehr Verrückte. Seht doch, wohin uns die Vernünftigen gebracht haben.“ Ich lese seit vielen Wochen in einem Buch, das für sämtliche drängende Themen der Klimaveränderung erprobte und bewährte Lösungen aus der ganzen Welt zusammengetragen hat. Jedes Projekt ist mit exakten Zahlen versehen, wie viele Gigatonnen CO2 sich einsparen lassen – wir hätten in nur wenigen Jahren alles umgesetzt, die Finanzierung ist bei weitem billiger als die staatlichen Förderungen, die jetzt in die Kohleindustrie und in die Atomkraft versenkt werden (ganz zu schweigen von dem Geld, das in die Rüstungsindustrie fließt). Apropos: Macht die Rüstungsindustrie derzeit auch Kurzarbeit? Sucht sie um staatliche Förderung an? Zahlt sie Dividenden aus? Wen kann man da fragen?
Das Buch „Drawdown. Der Plan“ von Paul Hawken präsentiert die wirklich vernünftigen Lösungen von Verrückten, die trotz Widerständen daran glauben, dass es möglich ist, eine menschenwürdige und umweltverträgliche Wirtschaft zu installieren. Ich wünsche mir, dass es sämtliche Politiker weltweit vor der Angelobung in ein Amt mit Entscheidungsbefugnis lesen müssen. Mit Lernzielkontrolle. Selbst das Problem mit den rotierenden Windrädern hat sich seit der Erscheinung des Buches gelöst, wie aus Spanien berichtet wird. Von dort kommt jetzt auch die Meldung, dass die Einführung des Grundeinkommens geplant ist.
Ich würde sehr gerne einen Blick auf die Bücher werfen, die unser Bundeskanzler liest, einfach aus Neugierde. Kaum etwas ist aufschlussreicher als ein Bücherregal, finde ich. Die Abhandlungen und Untersuchungen über ein Grundeinkommen würden meines Erachtens in ein solches Regal gehören, gerade jetzt, und selbst die katholische Sozialakademie Österreichs hat eine ganze Reihe von Büchern dazu veröffentlicht. Ihr Sitz ist in Hitzing, im Wohnbezirk von Kanzler Kurz. Es wäre ein Spaziergang.
Sonntag 5. April | 759 Infizierte in Vorarlberg
Endlich eine Virologin, die sich zu Wort meldet. „Wenn es auf das Ende der Quarantäne zugeht, sollten wir zuerst die Frauen hinausschicken“, sagt Ikaria Capua im italienischen Fernsehen, weil offensichtlich mehr Männer an dem Virus sterben. Ich habe es wirklich ein bisschen satt, dass wir überall Männer sehen, die Bescheid wissen, die entscheiden oder die Unwahrheiten verbreiten. Ich möchte einen weiblichen Blick auf das Ganze, auf den Zustand der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Erde selbst. Ich glaube, es ist höchst an der Zeit dafür.
Jetzt geht’s los mit Überwachungstechnologien und Reiseverbot, bis eine Impfung zur Verfügung steht, das Wort Impfzwang hängt noch unausgesprochen im Raum, aber ich warte nur darauf. Dass ausgerechnet vom Roten Kreuz die passende Technologie für eine Tracking-App kommt, erstaunt mich. Kurz will sie auf dem Smartphone der Bürger*innen, wer keines hat, erhält einen Schlüsselanhänger. Meinen Schlüsselanhänger werde ich sofort dem vorarlberg museum übergeben, dort werden Objekte gesammelt, die in dieser Krisenzeit eine Rolle spielen.
„Viele glauben, dass sich ausgerechnet jetzt, da es allen schlechter geht, die Dinge zum Besseren wenden könnten: die Politik vernünftiger, die Gesellschaft solidarischer, die Globalisierung sanfter. Diese Hoffnung möchte ich gerne teilen, aber ich bin leider skeptisch, denn die Not taugt nicht zum sozialen Erweckungserlebnis, und die Krise ist keine moralische Erziehungsanstalt.“, sagt Karl-Markus Gauß in der Süddeutschen Zeitung (2.4.2020). Wir wissen ja, dass es immer so weiter gehen wird, wenn nicht endlich andere Leute an den Führungspositionen sitzen. Allerdings rudert Herr Sobotka heute wieder zurück und verspricht Freiwilligkeit beim Download der App. Morgen wird wieder nach vorne gerudert, und das wirklich Unheimliche wurde eh schon heimlich eingeführt. Ich spreche mit einer Freundin, deren Sohn in Vietnam lebt – dort konnte das Virus sehr elegant mit 200 Infizierten und 0 Toten überwunden werden, natürlich mit genau so einer App und massenweisen Tests. Ich weiß nicht, was besser ist, die App ist eine Sache, aber eine Impfung geht mir zu weit unter die Haut, da werde ich kompliziert.
Seit heute esse ich wieder und erlebe wieder einmal, welche Freude eine Kartoffel mit Salz und Butter auslösen kann. Dazu bekomme ich ein Projekt der Wiener Symphoniker vorgespielt, die vom Wohnzimmer aus gemeinsam kreativ werden.
Samstag 4. April | 755 Infizierte in Vorarlberg
Nur zehn Neuinfektionen in Vorarlberg. Ich lese den Schüler-Blog des BG Blumenstraße und bin berührt und auch verärgert. Einige Lehrer*innen scheinen die Schüler*innen mit Aufgaben und sogar Tests zu überfrachten, als wären ausgerechnet die Kinder nicht von diesem Ausnahmezustand berührt. Gerade sie sind es ganz besonders, in einer Zeit, in der sie sich ihre eigene Welt erobern sollten, sitzen sie zu Hause mit den Eltern, von den Freund*innen abgeschnitten. Man erwartet aber offensichtlich, dass sie den Unterricht im selben Tempo absolvieren wie vor der Krise. Ich fände es klug, sie jetzt weitgehend in Ruhe zu lassen und nur eine sehr abgespeckte Dosis Aufgaben an sie zu übermitteln, und plädiere für Großzügigkeit. Die Kinder sind klug und weitsichtig, ihre Kommentare wohlüberlegt – dieser hier ist mein Lieblingseintrag: „Liebes Tagebuch, habe nichts Besonderes gemacht. Wärst du nicht ein Auftrag meines Klassenvorstandes, würde ich nicht einmal dich schreiben.“ (Nariye 8a)
Ich plädiere auch in anderer Hinsicht für Großzügigkeit. In Berlin gibt es einen enormen Zuwachs an obdachlosen Kindern auf der Straße, die vor gewalttätigen Eltern fliehen. Für sie gibt es derzeit nur vereinzelt Anlaufstellen und kaum Möglichkeiten an Essen zu kommen. Wir reden von Berlin, nicht von Indien. Das ist doch ein Versagen einer Regierung, wenn es keine funktionierenden Lösungen und sicheren Räume gibt für solche Kinder – stattdessen wird den bestehenden Hilfseinrichtungen die Essensausgabe verboten.
Es herrscht Traumwetter, ich liege lange im Liegestuhl auf der Terrasse in der warmen Sonne und lese. Morgen werde ich meine erste gekochte Kartoffel essen. Ich weiß aus früheren Fastenzeiten, welche Geschmacksintensität dann eine simple Kartoffel besitzt, ein Eindruck, der, wenn ich normal esse, verloren geht. Für mich ist Verzicht von Zeit zu Zeit sehr heilsam und er schärft meine Sinne für all den Wohlstand, den wir haben. Es verstärkt auch meine Dankbarkeit.
Kurz kündigt nur Hässliches an – eine Corona-Tracking-App wird verpflichtend, Reiseverbot soll gelten, bis es eine Impfung gibt, und über die längst eingeführte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum gibt es keine Diskussion. Der Cowboy aka Präsident der Vereinigten Staaten beschlagnahmt Schutzausrüstung in China, die für Deutschland bestimmt war mit der Begründung, das Unternehmen hätte amerikanische Aktionäre. Und was ist mit den Kindern in seinen detention camps, die längst schwer traumatisiert und verwahrlost sind? Ich wiederhole mich, aber vielleicht sollte man das auch – das könnte noch öfters vorkommen.
Freitag 3. April | 745 Infizierte in Vorarlberg
Lauter gute Nachrichten: Langsames Hochfahren des Wirtschaftslebens wird in Aussicht gestellt, die Quarantäne in den Vorarlberger Gemeinden ist aufgehoben, die Abflachung der Kurve ist allmählich geschafft. Einjähriger Auszahlungsstopp für Dividenden ist ebenso beschlossen wie Boni-Auszahlungen, Werner Kogler wettert jetzt doch gegen Viktor Orbán – vermutlich liest er mein Tagebuch. Scherz. Genau mein Humor kommt aber aus Ungarn – dort wurde im Gegensatz zu Österreich das Statement gegen den Missbrauch von Notstandsgesetzen sehr wohl unterzeichnet. Hat die Regierung verstanden, dass sie gemeint ist, auch wenn sie nicht wörtlich genannt ist? Oder ist die Führungsspitze dort dermaßen abgebrüht?
In Österreich wurde schon vor Monaten die Gesichtserkennung eingeführt, klammheimlich natürlich. Wir sind nicht weit entfernt von Ungarn. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, und wünsche mir Frau Bierlein zurück. Es braucht eigentlich nur Politiker*innen, die sich an die vorhandenen Gesetze halten, dann funktioniert alles bestens. Unsere Interims-Kanzlerin war ein Profi auf dem Gebiet.
Wir haben eine reale Chance auf ein Umdenken in der Wirtschaft, sagt der Ökonom Stephan Schulmeister. Er plädiert für gebändigte Finanzmärkte und alles, was ich und Millionen andere Menschen sich wünschen. Es ist nicht einzusehen, dass Einzelne Milliardenbeträge verdienen, ihre Angestellten schlecht bezahlen und bei erster Gelegenheit entlassen, um dann auf den Sozialstaat zurückzugreifen. Ich werde auch keinen Fuß mehr ins Café Demel setzen, das bereits am ersten Tag des Shutdown alle älteren Mitarbeiter*innen entlassen hat. Das ist dermaßen schäbig. Aber wenn sogar jemand wie Herr Schulmeister davon ausgeht, dass es ein Umdenken geben kann, dann will ich die Hoffnung nicht verlieren.
Kann es sein, dass es dringend an der Zeit wäre für ein weltweites bedingungsloses Grundeinkommen? In Italien revoltieren die Menschen, denen das Geld ausgeht, weil ihre Geschäfte seit Wochen geschlossen sind, sie können einfach kein Essen mehr kaufen. Was in Italien zeitverzögert auftritt, gilt für Indien ab Tag 1. Ein Tagesarbeiter (oder heißt das Tagelöhner?) berichtet, dass ihm Corona vollkommen egal sei, er habe seit fünf Tagen nichts gegessen. Tausende Menschen können dort die Ausgangssperre nicht einhalten, weil sie kein Zuhause haben. Menschen, die Hunger haben, sind zu allem bereit, vor allem wenn ihre Kinder hungern. Ich schließe hier von mir auf andere. Könnte ich mein Kind nicht ernähren, weiß ich nicht genau, was mir alles einfallen würde. Ach ja, was mich auf die Logik des amerikanischen Denkens bringt: Dort sind laut CNN-Bericht Waffengeschäfte und Schießstände systemrelevant und bleiben daher selbst bei Ausgangsbeschränkungen geöffnet. Kopf auf Tischkante. Ich fürchte mich vor den Zahlen, die wir bis Ende April aus aller Welt hören werden, und glaube, dass wir vergleichsweise gut davonkommen in Österreich.
Die Schule hat jetzt doch relativ viele Aufgaben bereitgestellt, die mein Sohn die letzten Tage weggedrückt hat. Heute ist der letzte Abgabetag vor den Osterferien und niemand hat klare Auskunft, ob die Lehrer*innen erreichbar sein werden oder nicht. Also rufe ich wieder an, erkläre unsere Verzögerung und erfahre viel Verständnis. Sie setzen auf die Selbstständigkeit von 13-Jährigen, aber ganz ehrlich – mir ist der Rest schon Experiment genug. Mein Sohn tut das, was ich in seinem Alter auch getan hätte: Das, was mir Spaß macht zuerst, das lästige später. Viel später. Wenn möglich nie. Das kann ich auch heute noch.
Ach ja, und seit Langem war heute wieder einmal Besuch in meiner Wohnung, mit Schutzmaske und gebührendem Abstand – der ORF wird über das Museumsprojekt berichten und ich bin erfreulicherweise Teil davon. So aufgeräumt war die Wohnung schon seit drei Wochen nicht mehr, sogar die Katze saß brav auf ihrem Platz. Meine Frage unseres Emsiana-Plakates von 2019 bekommt eine neue Bedeutung, nachdem sie gegangen sind: Wie lange bleibt ein Atemzug im Haus?
Donnerstag 2. April | 708 Infizierte in Vorarlberg
Ich bin zu spät dran. Der Wald ist voller Sportler, es gibt ein paar Turngeräte auf dem Weg, unter anderem eine Slackline. Ein Stück von ihr entfernt sitze ich auf einem sonnigen Platz jenseits der Wege und lehne mich an einen Baum. Er flüstert mir zu, dass wir noch lange brauchen werden, um in seiner Zeit anzukommen. Für dieses Geheimnis drückt er mir einen Stempel aus Harz auf den Mantel, damit ich es nicht wieder vergesse. Der Wald ist nicht nur voll, sondern auch voller Lärm. Zwei Männer versuchen abwechselnd ihr Glück auf dem Band, der eine kommt ins Wackeln, weil er niesen muss. In seine Hand. Mit der er sofort nach der aufgespannten Halteleine greift. Natürlich, das macht man so, bevor man fällt. Der nächste, der das Ding benutzt ... naja. Ich gehe wieder heim, Tag 5 der Fastenzeit verleidet mir dieses viel zu reale Leben.
Heute hatte ich eines der neuerdings beliebten Zoom-Meetings mit einer Reihe von Organisationen aus einigen Ländern Europas. Ich war angefragt worden, dort einen Teil meiner Arbeit zum Thema Demenz zu präsentieren, natürlich auf Englisch, und ich habe festgestellt, dass mein System schon ziemlich heruntergefahren ist. Mein Gehirn hält den langsameren Alltag für Urlaub und entsprechend wenig Denk-Struktur stellt es zur Verfügung. Ich kann mich dann aber doch zusammenreißen und bin danach allerdings erschöpft. Dafür kann ich jetzt Bäumen zuhören.
Eine der Frauen, die an Demenz erkrankt ist, berichtet aus Schottland von ihrer belastenden Situation durch die Einsamkeit. Mangelnde Kontakte sind für Menschen mit Demenz fatal, sie können den Krankheitsverlauf beschleunigen.
Jetzt werden auch in Italien Patienten mit dem Blut bereits geheilter Corona-Infizierter behandelt, offensichtlich mit Erfolg, wie auch schon vor Wochen aus Wuhan berichtet wurde. Griechenland scheint in der Flüchtlingsfrage nachzugeben, was Hoffnung für die Menschen in den katastrophalen Lagern bedeutet. Ich möchte mal bescheiden nachfragen, was mit den Kindern in den USA geschehen soll, die seit einer Ewigkeit von ihren Eltern getrennt in riesigen Lagern und ohne Betreuung festgehalten werden. Ich verstehe vieles nicht, aber das ist eine Ungeheuerlichkeit. Wo bleiben die internationalen Anfragen und Proteste, wo die Medien, die Alarm schlagen? Vielleicht gibt es momentan zu viele Ungeheuerlichkeiten gleichzeitig. Auf den Philippinen will der Präsident auf Menschen schießen lassen, die Probleme bei der Einhaltung der Ausgangssperre machen sollten. Lauter Verrückte in Führungspositionen. Muss ich noch erwähnen, dass Österreich ein Protest-Statement von 16 Ländern gegen Orbans Griff nach der Alleinherrschaft in Ungarn nicht unterzeichnet? Eigentlich war das von vornherein klar, jetzt ist aber auch sichtbar, wie viel grüne Regierungsbeteiligung in solchen Fragen möglich ist.
Mittwoch 1. April | 683 Infizierte in Vorarlberg
Heute Morgen hat eine Amsel vor meinen Augen meine Deko von der Terrasse gefladert und ließ sich nicht stören, selbst als ich sie freundlich fragte, ob sie eventuell auch etwas weiche Baumwolle mitnehmen möchte. Sie war emsig am Arbeiten und trug weiterhin kleine Äste aus der Osterdeko in einen nahen Baum, während ich direkt vor ihr stand. Unbrauchbares hat sie ungeordnet auf dem Boden hinterlassen.
Ich verliere auch den Kampf über den Wohnzimmerboden, ich muss es zugeben. Neben der Yoga-Matte liegen diverse Nintendo-, i-Pad- und Laptopgeräte, Kopfhörer, Schulbücher, Micky-Maus-Hefte und ein paar undefinierbare Kleinteile verstreut herum. Dazwischen schleppt die Katze ein Seil hinter sich her, auf der Suche nach einem Spielkameraden. Dabei wird sie gefilmt, denn die aktuelle Aufgabe für Deutsch lautet, einen inneren Monolog in einem Film zu erstellen. Auf den Monolog der Katze bin ich gespannt. Bisher habe ich die Materialflut noch kleingehalten, aber seit gestern übe ich mich im täglichen OOOOHHHMMM.
Man möchte Glück, wendet sich aber von ihm ab – das sagt der von Neuropsychologen als „glücklichster Mensch der Welt“ deklarierte Matthieu Ricard. Der ehemalige Wissenschaftler wurde buddhistischer Mönch, die jahrelange Meditation hat bei ihm nachweisbare Veränderungen im Gehirn hinterlassen – sehr wünschenswerte Veränderungen, denn mit einer Computertomographie lässt sich Glück anscheinend messen. Er erklärt in einem einstündigen Gespräch, was Glück in Wirklichkeit ist – nichts Neues, aber immer wieder gut, um es in Erinnerung zu rufen. Jedenfalls habe ich seit zwei Wochen wieder richtig viel Zeit zum Meditieren und es tut mir definitiv gut.
In Vorarlberg gelten 117 infizierte Menschen offiziell als geheilt. 15.800 Menschen sind ohne Job, wieder ein historisches Hoch – österreichweit sind es eine halbe Million, wir sind auf dem Stand von 1946. Trotz allem kann ich diesem globalen Stillstand immer noch etwas abgewinnen. Es hat für mich eine große Faszination, dass ein Virus es schafft, die Klimaziele in kürzester Zeit zu erreichen.
Ok, das ist jetzt polemisch, aber wenn es so weitergeht, ... dann ist es wohl an Bildungsminister Faßmann öffentlich zu verkünden, dass es in diesem Jahr keine Schulnoten geben kann. Das wäre ein kleiner, persönlicher Triumph. Es ist ein massives Problem, dass laut Bildungsministerium in Österreich 260.000 Schülerinnen und Schüler für die Schule nicht erreichbar sind. Diese Kinder und Jugendlichen sollen jetzt von Sozialarbeitern kontaktiert werden. Mein Sohn hingegen ist ziemlich glücklich mit dem Lernen daheim, aber das geht nur, weil einer von uns immer Zeit hat, weil wir Platz haben und Ruhe, weil er ein Einzelkind ist ... und weil er grundsätzlich nicht besonders gerne in die Schule geht.
Dienstag 31. März | 657 Infizierte in Vorarlberg
Wir hören seit zwei Tagen griechische Sagen, während wir Lego- und Playmobilteile sortieren. Die Flüsse waren von Anbeginn der Zeit heilig, wie alles, was Ewigkeit besitzt. Das hatte ich vergessen, aber ich finde es absolut einleuchtend. Ein Land ohne Flüsse bringt keine Lebensgrundlage hervor. Der letzte heilige Fluss, der Ganges, transportiert heute die größte Menge Plastik ins Meer. Ich bin nicht alleine mit dem Vergessen. Das Zimmer meines Sohnes ist bei Licht betrachtet auch voller Plastikteile, er steht genau an der Schwelle: Sein Blick erkennt noch immer seine wunderbare Phantasiewelt und gleichzeitig schon die leblosen Plastikfiguren. Nachts, als er im Bett liegt, sagt er „Es ist gut, dass wir jetzt das Zimmer räumen.“
Ich habe aus dem Intervallfasten eine Fastenkur gemacht, es ist Tag drei ohne Essen. Jedem sein eigenes Reinigungsritual, das unter die Haut geht. Tag drei ist immer ein schwieriger Tag, aber meine allerbeste Heilpraktikerin steht mir telefonisch bei.
Im Central Park steht jetzt ein Feldlazarett. In Schweden wird die Corona-Pandemie lockerer gehandhabt, eine meiner Bekannten möchte dorthin auswandern. Sie hält die Maßnahmen im restlichen Europa für übertrieben. Ich würde auch gerne wissen, ob die Schweden vielleicht richtig liegen – bisher geben die Zahlen ihnen Recht. Ich hoffe, das bleibt so – daraus lassen sich Schlüsse ziehen für unsere unmittelbare Zukunft. Für diese gibt es noch andere Themen, die mir ebenso gefährlich erscheinen wie das Virus.
Der Insektenbestand ist auch in Österreich drastisch gesunken – vielleicht bleiben wir ja lange genug daheim, um auch auf Agrargifte zu verzichten? Naja, man darf ja Wünsche äußern (diese beziehen sich nur auf die Gifte, nicht auf das längere Daheimbleiben).
Was der globale Shutdown für Auswirkungen hat, lese ich einem Bericht über Indien. Aber ich fürchte, die hektischen Aktivitäten einer maroden Wirtschaft nach dieser Zeit werden das Klima mehr als vorher gefährden – und die kleinen positiven Nachrichten von der kurzzeitig besseren Luft und der Rückeroberung der Strände durch meinen geliebten Wasserschildkröten werden dann Geschichte sein.
Montag 30. März | 616 Infizierte in Vorarlberg
Ich bin wütend. Es gibt viele Dinge, die ich unerträglich finde, allen voran, dass es immer noch keine Lösung für die Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern gibt. Das war schon die letzten Monate unerträglich – da sitzen KINDER, die sich mit Selbstmordversuchen aus dieser Hölle bringen wollen, wie die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ berichtet. Was aber jetzt dem Fass den Boden ausschlägt, ist die Aufforderung des griechischen Gesundheitsministers, Abstand zu halten und sich die Hände zu waschen – er richtet diese Worte dezidiert auch an Flüchtlinge. 15 Menschen in einem Zelt, kein Wasser und keine Seife. Das ist purer Zynismus. Diese Lager sind ein Pulverfass für Krankheiten, und eine Schande sind sie auch. Und was mich ganz genauso wütend macht, sind die Kälbertransporte, die für die Tiere noch schlimmer werden, weil auch die letzten Transportvorschriften fallen gelassen werden. Diese Tiere stehen jetzt auch noch stundenlang im Stau, ohne Wasser oder Futter, ohne Platz und voller Angst.
Ich bin überzeugt davon, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen unserem Umgang mit anderen Lebewesen und dem mentalen Stress in unserer Gesellschaft. Kurt Schmiedinger, ein Ernährungswissenschafter, bringt in den V-Heute die Massentierhaltung mit dem Auftreten von Pandemien in Zusammenhang. Und um noch eines draufzusetzen: In Ungarn herrscht seit heute eine Diktatur, das Parlament ist auf unbestimmte Zeit abgesetzt. Wer über schwierige Themen schreibt oder „falsche Informationen“ verbreitet, unterliegt der Zensur oder landet im Gefängnis. Ab jetzt ist es zu spät für diplomatische Interventionen. Das EU-weite Schweigen dazu hat mich wirklich erschreckt. Es müssen neben Corona auch noch andere Themen Platz haben in den Agenden von Politikern – das würde ich von gutbezahlten Menschen in solchen Positionen erwarten. Übrigens ist unser Bundeskanzler ein erklärter Freund von Victor Orban, das sollten wir nicht vergessen.
“The dark night of the soul comes just before revelation. When everything is lost, and all seems darkness, then comes the new life and all that is needed.” (Joseph Campbell)
Ich lese Joseph Campbell und bin so froh über seinen archaischen Zugang zur Welt, der mir auf jeder Seite weite und helle Räume öffnet. Na gut, und jetzt noch etwas Schönes aus Vorarlberg – drei heimische Großunternehmen spenden zwei Millionen Euro für Schutzmaterialien für medizinisches Personal. Die Kunststoffverpackungsfirma Alpla, der Beschlägehersteller Blum und der Fruchtsafthersteller Rauch stellen Budget zur Verfügung, die heimischen Textilbetriebe produzieren Schutzmasken, die man ab heute zum Einkaufen verwenden soll. Ab Mittwoch sind sie Pflicht. Menschen mit Mundschutz im Supermarkt hat man in Österreich auch noch nie gesehen.
Sonntag 29. März | 590 Infizierte in Vorarlberg
"Es ist durch nichts erwiesen, dass der Mensch
auf der Erde das herrschende Lebewesen ist.
Vielleicht sind das ja die Viren, und wir sind nur Material,
eine Art Kneipe für die Viren.
Der Mensch als Kneipe, eine Frage der Optik."
(Heiner Müller)
Ein Virologe erklärt in einem Interview, dass Viren sich mit der Zeit zu einem weniger aggressiven Krankheitserreger entwickeln, weil sie kein Interesse daran haben können, ihren Wirt zu töten. Das ist beruhigend, denn er erklärt ebenso, dass Herr oder Frau Corona uns vermutlich bleiben wird.
Ich beginne jedenfalls mit dem Intervallfasten. Meine Erfahrung mit dem Fasten in der Vergangenheit lehrte mich, dass es sinnvoll ist, jeder Art von Erreger die Energie zu entziehen. Der Tag beginnt mit leichtem Kopfweh, aber während der Waldrunde geht es weg, und ich versuche mehr Wasser zu trinken als sonst. Wie es scheint, hilft aber hochprozentiger Alkohol ebenfalls – in einer Talkshow lässt sich ein Arzt darauf ein, diese Empfehlung wiederholt auszusprechen, von einem amüsierten Moderator dazu angestachelt. Er möchte nicht missverstanden werden, aber ein guter Whiskey würde Viren im Rachenraum töten, sagt er. Leider ist die Welt wohl nicht so einfach, und was mir ein Freund kürzlich aus dem Elsass berichtet hat, steht jetzt bei uns in der Zeitung. Seine Schilderung vor einer Woche war so dramatisch, dass ich da schon begonnen habe, diese Sache sehr ernst zu nehmen.
Portugal scheint immer wieder mit klugen Entscheidungen in den Medien auf, diesmal hat die Staatsregierung beschlossen, allen Menschen Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem zu gewähren, solange die Krise dauert.
In den USA stirbt ein 19-jähriger amerikanischer Staatsbürger, weil er nicht versichert ist und vom Spital abgewiesen wird. In Frankreich ist eine 16-Jährige gestorben; es wäre dumm zu glauben, dass wir nur wegen alter Menschen zu Hause bleiben. Dass jetzt adidas und H&M keine Mieten mehr bezahlen, geht durch die sozialen Medien. Bevor meine Laune kippt, halte ich mich an das Bild einer Freundin, die seit Jahren alles mit Häkelarbeiten verdaut – ihre neueste Kreation ist wunderhübsch, auch wenn das Objekt in echt richtig fies ist.
Samstag 28. März | 563 Infizierte in Vorarlberg
Italien erwägt eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für alle für einen bestimmten Zeitraum, im schottischen Nationalrat wird es ebenfalls diskutiert. Dieses Virus entwickelt ungeahnte Durchschlagskraft.
Es sind schöne Frühlingstage, die Natur erwacht. Endlich mache ich tägliche Spaziergänge im Wald und habe mehr Zeit für Dinge, die mir wichtig sind. Ich nehme mir fest vor, das Gehen im Wald auch nach diesen eigenartigen Wochen beizubehalten.
Am Nachmittag reicht mir meine Nachbarin einen selbstgemachten Schokoladenkuchen über den Zaun. Eigentlich wäre ich diejenige, die für sie einkaufen gehen sollte, sie gehört mit ihrem hohen Alter der Risikogruppe an, aber das ist auch die Generation „Danke-ich-komme-alleine-zurecht“. All meine Angebote ihr behilflich zu sein, sind bisher ins Leere gelaufen – und sie hat so Recht. Die Menschen in Vorarlberg halten sich offensichtlich an die Maßnahmen, der Polizeikommandant bedankt sich bei der Bevölkerung dafür. Das alles ist irgendwie auch skurril.
Die USA haben China überholt, schon jetzt gibt es dort mehr Corona-Infizierte und Tote, als in China bisher. In Wuhan, dem Ausgangsort der Epidemie, werden die Ausgangseinschränkungen heute nach zwei Monaten wieder aufgehoben. Ich bin gespannt, wie sich die angekündigte zweite Ansteckungswelle gestaltet.
In Österreich gibt es jetzt 8000 nachgewiesene Infizierte, Tendenz steigend. Der höchste Wert wird in einem Monat erwartet. Ich rechne nicht mehr damit, dass die Schule vor dem Sommer wieder startet. Die Telefonate meines Sohnes mit der Schulkameradin werden häufiger und länger, was mir ein bisschen wehtut. Sie sollten sich sehen und ganz normal herumblödeln können.
Inzwischen wird von der Yoga-Stunde bis zur Oper und dem Theaterstück alles ins Wohnzimmer gestreamt. Der Kulturbetrieb liefert online frei Haus – mich würden die Einschaltquoten interessieren, ich hoffe, sie erreichen eine bestimmte Anzahl an Zuschauer*innen, bin aber skeptisch.
Die Vorarlberger sind erfinderisch und die Apelle in den Medien, doch bitte regional zu bestellen und einzukaufen, häufen sich. Es gibt eine Reihe von Plattformen und Lebensmittelautomaten mit Produkten ab Hof.
Eine meiner Freundinnen steht demnächst vor der Entscheidung, eine ganze Abteilung ihres Betriebes schließen zu müssen, sie rechnet seit Tagen das Budget durch. Es gäbe einige Gründe, ein Glas Wein miteinander zu trinken, um herausfordernde Situationen zumindest gemeinsam zu begießen, aber genau das geht nicht. Wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, erkennt man auch am Haarschnitt der Menschen – die einen ergrauen und ich bin schon gespannt, ob der gute alte Pferdeschwanz wieder modern wird.
Freitag 27. März | 529 Infizierte in Vorarlberg
Ich telefoniere mit der Klassenlehrerin, um herauszufinden, ob wir eigentlich die einzigen sind, die noch keine ausgefüllten Aufgabenblätter in die Schule geschickt haben. Ruben sitzt zwar täglich an seinen Sachen, aber in seinem üblichen Tempo und gänzlich ohne Ehrgeiz. Das ist nichts Neues für uns. Kinder von Freundinnen haben den ganzen Vormittag „Schule“, werden täglich mit Aufgaben beglückt und sind ständig in Kontakt mit den Lehrer*innen. Ich bin so froh, dass unsere Schule das anders handhabt. Wir vereinbaren, dass er einen Bericht darüber abgibt, wie er mit Harry Potter auf Englisch vorankommt, und auch die Bücher, die er auf Deutsch liest, soll er mit einer Powerpoint-Präsentation oder live per Skype vorstellen. Das gilt ebenso als Mitarbeit wie die Arbeit an den Aufgabenblättern. Kluge Lehrer*innen sind so hilfreich.
Der Wald hinter unserem Haus ist ebenfalls sehr hilfreich für meine Nerven; heute begegne ich beim Spaziergang einem der seltenen Arbeitspferde „im Holz“. Der junge Bauer transportiert mit dem schönen, kräftigen Noriker Baumstämme durch das Unterholz auf den Weg. Die Szene ist unwirklich schön im Sonnenlicht. Er freut sich, weil ich ihm verspreche die Fotos zu schicken, die ich mit seiner Erlaubnis gemacht habe. Etwas entfernt steht der Direktor des Kunsthauses Bregenz mit seiner kleinen Tochter. Auch er hat so einen Arbeitsvorgang noch nie gesehen, wie er mir erzählt. Wir teilen diesen besonderen Augenblick, bevor wir weitergehen, das Pferd mit Bauer den Hang hinauf, Vater mit Tochter Richtung Gebhardsberg, ich nach Hause. Homebound. Ach ja, mein Wort des Tages lautet Eutopie: ein medizinischer Begriff, der bedeutet, dass alle Organe an ihrem richtigen Platz und funktionsfähig sind.
Der Ruf nach einem breiten Diskurs über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen wird lauter, wie sich auch Ungeduld und Spekulationen breit machen – fake news, denen die Regierung entschieden entgegentritt. Ich verstehe vieles nicht und kann vor allem nicht einschätzen, was in einer Situation, die es vorher noch nie gegeben hat, richtig oder falsch ist. Ich bin immer wieder überrascht vom Selbstbewusstsein mancher Zeitgenossen, die apodiktisch ihre Sichtweise in den Raum stellen, gänzlich ohne Fragezeichen. Früher war ich fasziniert von Menschen, die Wissen in sich vereinen und es auch eloquent präsentieren können. Heute liebe ich Menschen, die Fragen stellen, das wird mir immer deutlicher bewusst.
In Idlib, Syrien, malen zwei Graffiti-Künstler ein Dankesbild für Angela Merkel und gratulieren ihr, weil sie wieder gesund ist. „Frau Merkel hat viele Flüchtlinge aufgenommen“, sagen sie im Interview, „Das werden wir ihr nie vergessen.“
Donnerstag 26. März | 445 Infizierte in Vorarlberg
Jetzt hat auch Indien eine Ausgangssperre verordnet, weltweit sitzen derzeit 2,6 Milliarden Menschen zu Hause fest. In Afrika nimmt das Virus gerade erst Anlauf, erste Kranke sind getestet worden. Ich entdecke täglich neue Wörter, die mir gefallen: homebound lautet das schöne englische Wort für die Ausgangssperre, ich kannte es als „Heimflug“ aus meiner Zeit als Flugbegleiterin. 2,6 Milliarden Menschen, die zum größten Teil weder Garten noch Balkon und zu wenig Platz haben. Was sich hinter den diversen Türen abspielt, wäre Stoff für Schriftsteller*innen. Meine Dankbarkeit für das österreichische Sozialsystem wächst täglich.
Die New York Times berichtet von reichen Amerikaner*innen, die auf ihre Luxusyachten flüchten, mit Angestellten, die dann aber auch nicht mehr abreisen dürfen. Mit im Team ist neuerdings medizinisches Personal – man kann ja nicht wissen. Es gibt viel zu viele Superreiche, die sich so etwas leisten können, und sie versuchen dem Gesundheitssystem jetzt Kräfte zu entziehen, die anderswo weit dringender gebraucht werden. Amazon-Chef Jeff Bezos verdient in zehn Tagen zehn Milliarden Euro und braucht 100.000 neue Mitarbeiter*innen; Amazon-Aktien sind derzeit wertvoller als Gold. Der Standard bringt es auf den Punkt: „Hohe Dividenden an Aktionäre zahlen, gleichzeitig Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken und um staatliche Hilfe ansuchen? Das kommt nicht gut.“
Weil ich von meinem Bluthochdruck erzählt habe (der jetzt chemisch zwangsberuhigt ist, was einer kleinen persönlichen Niederlage gleichkommt, aber das ist eine andere Geschichte), bekomme ich viele liebe Anrufe und Tipps. Gestern erzählte ein deutscher Arzt von seiner eigenen Infektion, die trotz Bluthochdruck relativ harmlos ausfiel und die er zu Hause gut überstanden hat – ich suche so lange nach Antworten, bis ich diejenigen finde, die ich hören möchte. Wir sind eine Antwortgesellschaft, es tauchen unzählige Antworten auf, täglich und stündlich. Die Unwissenheit auszuhalten ist schwer. Vertrauen zu haben ist schwer und daheim zu bleiben ist auch schwer.
Das erste Todesopfer in Vorarlberg ist zu beklagen, aber doch: In Österreich gelten laut Gesundheitsminister Rudi Anschober in der ZIB 112 nachweislich Infizierte jetzt als genesen. Die Dunkelziffer der bereits wieder gesunden Menschen dürfte weit höher sein – und immer noch ist unklar, ob diese nicht jetzt doch immunisiert sind und sich frei bewegen könnten. Sie wären ideale Ehrenamtliche für so viele Dienste.
Mittwoch 25. März | 417 Infizierte in Vorarlberg
Ausgangsbeschränkung Tag 10 und ich habe noch immer keine Lust auf Großreinemachen. Ich bin froh, wenn ich sonst alles auf die Reihe bekomme, was zu tun ist. Heute habe ich mir ein stärkeres Medikament besorgt für meinen neuerdings wieder hohen Blutdruck. Eine Folge der Bilder aus den Intensivstationen, vermute ich. Seit ich diese Tabletten zu Hause habe, fühle ich mich besser – noch bevor ich eine davon nehme. Die Psyche ist schon so ein Luder ... Monatelang war mein Blutdruck ganz normal, kaum höre ich, dass Bluthochdruck-Patienten besonders gefährdet sind, steigen die Werte. Mein Arzt erklärt mir am Telefon, was er von dieser Pandemie hält (nämlich nichts) und was er in der Zukunft erwartet. Das Gespräch geht Richtung Weltverschwörung und ich halte mich kurz, allerdings zeichnet er ein ähnliches Bild wie Yuval Noah Harari, nur spricht er deutliche Verdächtigungen aus, was ein international renommierter Autor natürlich nicht macht.
Zu Hause treffe ich meinen Sohn bei einem FaceTime-Telefonat mit einer Schulfreundin an und gehe innerlich auf Zehenspitzen. Auf keinen Fall will ich durch meine Anwesenheit einen seltenen Kontakt zu seiner Außenwelt unterbrechen.
Inzwischen fordert UNO-Generalsekretär Guterres einen globalen Waffenstillstand, „weil ansonsten Millionen zu sterben drohen“ ... eine eigenartige Argumentation – ist das nicht die Grundidee des Krieges? Ich bin natürlich ganz seiner Meinung, aber diese Forderung sollte auch ohne Ausnahmezustand täglich in den Medien präsent sein, gerade von ihm.
Diese Situation stellt so viele Fragen an uns und es gibt so wenige verlässliche Antworten. Allein schon die nächsten Schritte bei unserem Literaturhaus-Projekt: Wird es die zugesagte Förderung der Kulturabteilung noch geben? Sollen wir Kurzarbeit beantragen, geraten wir dann in eine Doppelförderung oder machen wir einen Fehler, weil wir nicht rechtzeitig die Arbeit auf Null gesetzt haben? Das alles sind Luxusprobleme, die wir trotzdem lösen müssen.
560 medizinisch ausgebildete Leute haben sich bis heute freiwillig gemeldet, der Aufruf bleibt aber aufrecht, die Landesregierung bittet um helfende Hände. Das ist kein Luxusproblem.
Dienstag 24. März | 391 Infizierte in Vorarlberg
23 Menschen werden im Krankenhaus behandelt, davon zehn auf einer Intensivstation. Tirol und Vorarlberg haben die am schnellsten wachsende Infektionsrate, österreichweit wird die Ansteckungskurve flacher.
Ich muss mir eingestehen, dass ich auch zur Hypochondrie neige. Ich habe keinerlei Beschwerden, aber seit Sonntag hat sich ein inneres Radar aktiviert, das nach dem leisesten Kratzen in meinem Hals fahndet. Ich muss das wieder loswerden. Derzeit weht ein eisiger Wind und es wäre die klassische Zeit für eine der üblichen Erkältungen. Ein Arzt aus Italien berichtet von den Zuständen im Spital, auch von jungen Intensivpatienten, deren Bluthochdruck die Infektion eskalieren ließ. So ein Mist.
Nachdem wir auf vielen Medien von den gravierenden Folgen für die Wirtschaft lesen, die uns in düsterer Zukunft erwarten, vermelden die US-Börsen den stärksten Handelstag seit 1933 – ein historischer Kursgewinn. Ich bin gar nicht sicher, ob ich das erklärt bekommen möchte. V-Heute bedankt sich für die höchste Einschaltquote seit den Anfängen der Sendung im Jahr 1988, 83 % der Vorarlberger Bevölkerung sitzt derzeit täglich vor den Bildschirmen. Auch nicht überraschend, aber schon wieder historisch. Genauso wie die Absage der Olympiade 2020, die heute verlautbart wurde. V-Heute bedankt sich bei der Bevölkerung, Spar bedankt sich bei den Mitarbeiter*innen mit einem einmaligen Geldgeschenk. Bundeskanzler Kurz bedankt sich bei allen Österreicher*innen. Ich danke dem Schicksal, das rechtzeitig dafür gesorgt hat, dass wir eine funktionierende Regierung haben – ich meine das übrigens sehr ernst. Ich bin wirklich sehr froh darüber, in Österreich zu leben. Heute habe ich mit einem jungen Mann in Ungarn telefoniert, dort gibt es keine Großveranstaltungen mehr, aber auch keine Ausgangseinschränkungen. Wollen wir hoffen, dass das gut geht.
Tausende Freiwillige haben sich nach einem Aufruf des Landwirtschaftsministeriums zur Erntehilfe gemeldet. Außerdem ruft die Regierung Pflegekräfte, LKW-Fahrer*innen und medizinisch ausgebildete Kräfte dazu auf, sich zu melden, gebraucht wird jede helfende Hand.
Begeistert lese ich einen Geo-Artikel, in dem eine Wissenschaftlerin über ihre Arbeit mit Pflanzen berichtet und nachweist, dass diese Strategien entwickeln können und Schlüsse aus früheren Erfahrungen ziehen, ähnlich wie die berühmten Pawlowschen Hunde. Wir unterschätzen die Natur bei Weitem, schon lange.
Montag 23. März | 330 Infizierte in Vorarlberg
Ich soll Texte schreiben und meinen Sohn zum Englischlernen überreden ... er aber liebt Mathe und bleibt konzentriert bei diesen Aufgaben. Ich entscheide, dass Mathe ebenso wichtig ist und lasse ihn machen. Wir beschließen gemeinsam, dass er Band eins der Romanreihe um Harry Potter auf Englisch lesen wird, ich scheitere aber bei der Bestellung an der Website unserer lokalen Buchhandlung. Das ist die dritte Website, deren Service-Leistung mehr als bescheiden ist, wenn es darauf ankommt. Wenn ich nur mehr Geduld hätte für den ganzen technischen Kram ...
Seit einem Chat gestern in der Nacht mit einem Freund bin ich gar nicht mehr entspannt. Er lebt in Frankreich und berichtet davon, wie junge und eben noch gesunde Menschen in seiner Nachbarschaft wegsterben, wie das Militär Patienten per Hubschrauber in weiter entfernt gelegene Krankenhäuser fliegt und Truppen auf den Straßen patrouillieren. Wer draußen angetroffen wird, braucht einen triftigen und schriftlich verfassten Grund, wer mehrmals erwischt wird, dem drohen drakonische Strafen bis hin zum Gefängnisaufenthalt. Zwischen 21:00 und 6:00 Uhr hat niemand außer Haus zu sein. Bei uns wird social distancing auch zunehmend ernst genommen, und der erste schwer verlaufende Corona-Fall ist bereits in unsere Nähe gerückt. Zum Glück ohne direkten Kontakt.
Trotzdem muss der Alltag irgendwie funktionieren, also schiebe ich Horrorbilder aus den Intensivstationen aller Welt wieder weg, wundere mich, dass ausgerechnet Ärzte aus Kuba Italien zu Hilfe eilen und kehre zurück zur jetzt eben telefonischen Buchbestellung. Die klappt sofort dank einer sehr unkomplizierten Buchhändlerin per Sofortübergabe an einem vereinbarten Ort, gänzlich ohne die Türe des Geschäfts zu öffnen. Genialer Service.
Ich mache mir Sorgen um die EU – überall werden Grenzen hochgezogen, Orban ändert über Nacht die Gesetze, die eine Diktatur in Ungarn ermöglichen – und kein Staatschef protestiert. Die schöne neue Welt von Matthias Horx hält der Realität nicht stand.
Sonntag, 22. März | 294 Infizierte in Vorarlberg
Die Neuinfektionen flachen deutlich ab, ein Durchbuch in der Medizin macht gleich noch mehr Hoffnung – in Salzburg wurde ein Medikament getestet, das die Symptome der Viruserkrankung um 90 % mildern kann, so Dr. Richard Greil, Primar an den Salzburger Landeskliniken. Er geht mit zwei Medikamenten an die Öffentlichkeit, die in seiner Klinik gegen Krebs zum Einsatz kommen. Seit gestern werden sie bei schwer Erkrankten auf der Intensivstation angewendet, es bleibt abzuwarten.
Seit fast einer Woche gelten die Ausgangseinschränkungen. Wir müssen uns ein bisschen verteilen, damit wir nicht dauernd aufeinandersitzen, mein Sohn vermisst es, auch mal alleine zu sein. Ich verstehe ihn sehr gut, mir geht es auch so, aber wir Eltern können uns das besser einteilen: Wenn Ruben bei M. schläft, habe ich die Wohnung für mich. Also gehe ich eine Runde auf den Gebhardsberg, er bleibt in seiner Hängematte und schaut sich Videos am Handy an. Leider hatte nicht nur ich diese Idee, viele Spaziergänger pilgern den Weg nach oben, die natürlich alle in gebührendem Abstand gehen, aber auf diesen engen Waldwegen ist das im Grunde schwer möglich. Ich drehe um und gehe nach halbem Weg wieder nach Hause.
Es mehren sich die besorgten Stimmen von klugen Menschen, dass wir unsere demokratisch verankerten Freiheiten leichtfertig aufs Spiel setzen. Das ist sicher eine der vielen drohenden Gefahren, aber ich stelle für mich eine Gegenthese auf – was, wenn wir nach dieser Zeit der Besinnung auf die Idee kommen, eine andere Wirtschaftsform gestalten zu wollen? Ich lese, dass 1100 Obdachlose in London in Hotels untergebracht werden, freiwillige Taxifahrer bringen sie dorthin. Was alles möglich ist, wenn man sich vor Schlimmerem fürchtet.
Samstag, 21. März | 234 Infizierte in Vorarlberg
"Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Tiefenkrisen nennt das die Zukunftsforschung“, sagt Zukunftsforscher Matthias Horx und zeichnet ein hoffnungsvolles Bild für die Zeit nach der Corona-Pandemie. Horx war nie auf meiner Liste ernstzunehmender Menschen – aber entweder hat er Marihuana gehamstert wie andere Leute Klopapier oder er spürt wie ich eine ähnliche, durchaus nüchterne Erleichterung. Ich empfinde diese neben all den grauenhaften Bildern und Erzählungen aus Italien, und ich glaube wirklich, dass ein kollektives und verordnetes Innehalten nicht spurlos an uns allen vorübergehen kann.
Ich habe erst kürzlich realisiert, dass ich zu einer Risikogruppe gehöre, also habe ich großen Respekt vor den kommenden Wochen, aber neben all der Verunsicherung stelle ich mir vor, dass genau jetzt in großen Teilen der Welt Millionen von Menschen zu Hause in ihren vier Wänden bleiben und stillhalten. Irgendwann stellt sich vermutlich jedem Menschen eine Frage: Wie will ich eigentlich leben? Ich traue der Menschheit so viel zu, in jede Richtung. Yuval Noah Harari warnt gleichzeitig vor den neuen technologischen Möglichkeiten der Überwachung, deren Einsatz derzeit leicht zu argumentieren ist. Solche einmal erlassenen Gesetze wurden aber in der Regel, wie die Vergangenheit beweist, nicht mehr revidiert, auch nicht, nachdem eine Gefahr gebannt ist. Wir werden uns also an Dinge gewöhnen müssen, die uns zuwider sind. Und schon hat sich die zarte Erleichterung in mir wieder aufgelöst, denn Horx gegen Harari ist ein ungleicher Kampf.
Freitag, 20. März | 199 Infizierte in Vorarlberg
Unsere heutige Heimunterrichtserfahrung vergrößert meine Dankbarkeit gegenüber geduldigen Lehrerinnen und Lehrern. Wir können uns in unserer Lage glücklich schätzen, jeden Tag und in fast jedem Telefongespräch mit Freundinnen höre ich von richtig schwierigen Situationen im privaten Umfeld. Da tritt, ein bisschen wie in der Weihnachtszeit, alles zutage, was man im hektischen Alltag übergehen kann.
In Vorarlberg gab es bislang 28 Anzeigen für Übertretungen der COVID-19-Gesetze. Was immer das im Detail bedeutet, sie können eine Strafe von bis zu 3000 Euro nach sich ziehen. Die Ausgangseinschränkung ist bis nach Ostern verlängert worden. Ich habe die Hoffnung, dass jetzt wirklich eine globale Erkenntniswelle möglich wird, zum Beispiel, welche Kräfte unverzichtbar für eine Gesellschaft sind. Die meisten werden derzeit vorwiegend von unterbezahlten Frauen geleistet. Öffentlicher Applaus und Lob in den Medien sind ja auch schön, aber wenn Pflegekräfte, Angestellte im Einzelhandel, Warenlager-Mitarbeiter*innen, LKW-Fahrer*innen, Reinigungskräfte und so viele andere jetzt auch nur für zwei Stunden ihre Arbeit stoppen und freundlich nachfragen würden, ob man eventuell noch einmal über die Gehälter reden könnte ... Nein, das ist kein Vorschlag, nur ein flüchtiger Gedanke.
Wie positiv ein gemeinsamer „Feind“ von außen auf unsere österreichische Politiklandschaft wirkt – jetzt hat Sebastian Kurz endlich ein richtiges Thema. Das Fehlen eines eigenen Themas war bisher sein großes Manko. Die Koalition mit den Grünen mündete schnell in einer intensiven Zusammenarbeit. Inzwischen wird die Überforderung und Fahrlässigkeit einiger Populisten in anderen Staaten deutlich. Trump schlägt vor, alle Infizierten auf Kreuzfahrtschiffen zu isolieren. Dabei habe ich mir vorgenommen, kein Wort über ihn zu verlieren, aber es ist wirklich schwer. Ich mache mir Sorgen um meine Freunde in den USA. Afrika schließt zum ersten Mal die Grenzen zu Europa, schon wieder ein historisches Ereignis.
Donnerstag 19. März | 165 Infizierte in Vorarlberg
Am 14. März schickt China 2300 Kisten mit Atemschutzmasken nach Italien. Auf den Paketen steht: „Wir sind Wellen desselben Meeres, Blätter desselben Baumes, Blumen desselben Gartens.“
Ich arbeite das ganze Jahr durch von zu Hause aus, deswegen ist mein Alltag nicht ganz so von der Situation betroffen, aber ich erhalte deutlich mehr private Anrufe. Die Menschen haben Zeit und auch das Bedürfnis zu reden. Mein Sohn steht irgendwann nach 9:00 Uhr auf und greift zuerst nach seinem Roman, das Handy lässt er liegen. Irgendwas läuft hier richtig gut. Allerdings ziehen sich im Lauf des Tages Verlängerungs- und Computerkabel durch die Wohnung und geben Hinweise darauf, wo er sich gerade befindet. Heute wäre auch ganz regulär schulfrei (Josefstag), beinahe hätten wir mit der Unterrichtszeit begonnen – zum Glück ist es mir rechtzeitig eingefallen.
Damit die Supermärkte beliefert werden können, muss jetzt das Bundesheer helfen, was ich nicht verstehe. Ich verstehe vieles nicht, zum Beispiel auch, warum es nicht ausreicht, nur die Risikogruppen zu isolieren.
In der Dornbirner Messehalle wird eine Ambulanz für Nicht-Corona-Fälle eingerichtet, um die Spitäler freizuhalten. Warten auf das Virus sozusagen – man rechnet mit ca. 6000 Infizierten.
Seit heute ist Vorarlberg auch gegen Tirol abgeriegelt, es sind also alle Grenzen dicht. Ich glaube, das ist ein historisches Ereignis, wie überhaupt alles derzeit. Ich glaube, irgendwann habe ich genug von historischen Ereignissen.
Mittwoch, 18. März | 151 Infizierte in Vorarlberg
Wilde Tiere werden in Italien auf den verwaisten Straßen gesichtet. In Japan haben Volksschulkinder ihre abgesagte Schulschlussveranstaltung über das Onlinespiel „Minecraft“ gefeiert – die Kinder errichteten eine eigene Halle mit Bühne, Beleuchtung und Sitzplätzen und führten so die zeremonielle Verabschiedung durch.
In den Nachrichten wird von einer möglichen Verkürzung der österreichischen Sommerferien berichtet. Strahlend blauer Himmel, mein Sohn plädiert für eine Erweiterung seiner Online-Spielzeit, aber so weit sind wir noch nicht. Zunächst gibt es eine Fahrradrunde zu zweit auf abgelegenen Wegen, danach zwei Stunden Lernen an meinem Schreibtisch. Während der Fahrradrunde gehört die Wohnung mir allein, ein derzeit seltenes Vergnügen. Endlich die Nachricht, dass unsere Reise nach Paris auf Ende des Jahres verschoben werden kann. Unerwartete Freude – wir hatten keine Stornoversicherung gebucht.
Noch sind in Vorarlberg alle Infizierten in häuslicher Quarantäne, niemand ist im Spital – trotzdem soll von den Balkonen und aus den Fenstern geklatscht werden. Alles zu verfrüht. Ich bin sicher, die Notwendigkeit dafür kommt noch. In der Nacht beschließt das Land Tirol die Quarantäne für jede einzelne Gemeinde.
Dienstag, 17. März | 100 Infizierte in Vorarlberg
Ein Mathematiker der TU Wien berichtet, dass erste zarte Auswirkungen zu sehen seien, die Ansteckungskurve flache ab. Aber auch die Zahl an Schutzausrüstungen in den Spitälern flacht ab, dabei stehen wir noch ganz am Anfang der Infektionsrate. In Italien stirbt derzeit alle vier Minuten ein Mensch am Virus, die Spitäler sind an der Grenze der Belastbarkeit. Ich lerne ein neues Wort: Triage. Es bedeutet, die Ärzte müssen entscheiden, wem sie helfen werden und wen sie sterben lassen müssen. Auch lese ich über Corona-Partys in Deutschland und muss meine Gedanken zügeln. Nein, ich wünsche niemandem eine Krankheit.
Der ORF berichtet mit Sachlichkeit und hoher Professionalität, unser Ex-Minister Kickl plädiert währenddessen weiter für die Abschaffung der Rundfunk-Gebühren. Ich denke kurz darüber nach, wie es wohl wäre, wenn die FPÖ an der Regierung beteiligt wäre. Frau Hartinger-Klein täglich im Live-Ticker mag man sich nicht ausdenken, Kickls perverse Lust an Krisenszenarien lässt hässliche Szenen erahnen – die zum Glück nicht Realität sind. Das war knapp.
Montag, 16. März | 72 Infizierte in Vorarlberg
Ausgangsbeschränkungen gelten ab sofort für ganz Österreich. Noch sitzen Menschen in Cafés, die erst um 15:00 Uhr geschlossen werden müssen. Es ist ein strahlender Frühlingstag mit einem streifenfreien Himmel. Berufsarbeit, die nicht aufschiebbar ist, darf weiter ausgeführt werden. Ich gehöre nicht zu dieser Gruppe, fahre aber trotzdem ins Büro, weil Homeoffice vorbereitet werden will. Außerdem nehme ich ein paar allzu persönliche Unterlagen mit nach Hause, man weiß ja nie.
Am Nachmittag kommt die Nachricht, dass die EU die Außengrenzen schließen wird. Ich sitze an meiner neuen Website und erlebe die homöopathische Nachwirkung einer tiefen Erschöpfung in Anbetracht der vielen Projekte, die ich sichten und zusammentragen muss. Was ich in den letzten Jahren alles gearbeitet habe, macht mich nachdenklich. Zum Glück bin ich aufgerufen, daheim zu bleiben. Was über Trump in den Medien zu lesen ist, will ich gar nicht kommentieren.
Sonntag, 15. März | 55 Infizierte in Vorarlberg
Ausgangsbeschränkungen.
Treten ab sofort in Kraft, Übertritte werden ab Montag geahndet. Wir sind in der Boulderhalle, die Kinder spielen fangen und klettern. Wer Jugendliche daheim hat, fürchtet sich vor dem Bewegungsmangel und, wie sich dieser auf die Stimmung auswirken kann. Ich telefoniere mit F. und wir beschließen, dass unsere Verabredung noch steht – er richtet meine neue Website so ein, dass ich sie die nächsten Tage in Ruhe befüllen kann. Ein überfälliges Projekt, für das jetzt endlich Zeit sein wird. Um 18:00 Uhr ein erstes Balkonkonzert der Vorarlberger Musiker*innen aus Fenstern, Balkonen und in Höfen. Mir kommt das verfrüht vor, in Italien singen die Menschen von den Balkonen, weil sie schon so lange in Sperrzonen festsitzen. Wir haben noch gar nicht damit angefangen.
Samstag, 14. März | 34 Infizierte in Vorarlberg
Es werde auch in Zukunft keine Ausgangssperre geben, sagt Rudi Anschober in den Nachrichten. Wir sind in der menschenleeren Boulderhalle und versuchen, die Situation zu begreifen, während die Kinder ihrem Bewegungsdrang die Wände hinauffolgen. Ich weiß nicht, wie oft ich an diesem Tag Berichte und Scherze über leere Klopapier-Regale in Supermärkten lese und will es nicht glauben. Wir haben uns heute noch mit Neuerscheinungen eingedeckt, bevor die Buchhandlungen schließen.
34 Menschen sind erkrankt, acht mehr als am Freitag. Ein Vier-Milliarden-Hilfspaket stellt die Bundesregierung für Betriebe bereit – wird eher nicht reichen. Die Kulturschaffenden haben bis jetzt nur schwammige Aussagen zur Kompensation ihrer Einkommensverluste bekommen.
M. geht noch Laufschuhe für Ruben kaufen, damit sie mit dem Joggen beginnen können.
Freitag, 13. März | 26 Infizierte in Vorarlberg
Delfine in den italienischen Häfen, saubere Luft über den chinesischen Metropolen. Das Wasser in den Kanälen Venedigs ist so klar wie nie, die Natur atmet auf.
Ich war noch kurz vor 12:00 Uhr in der Bücherei und habe einen Meter Bücher für Ruben und mich geholt. Um 10:00 Uhr wussten die Büchereiangestellten nicht, dass sie schließen werden. Wir gehen nach Schulschluss gemeinsam ins Manga essen, das Lokal ist fast leer. Am Abend kommt eine Freundin zum Essen zu uns, wir spüren die Unsicherheiten in der Luft und behandeln sie mit einem Glas Wein.
Donnerstag, 12. März | 16 Infizierte in Vorarlberg
Händewaschen wird salonfähig, so sauber waren soziale Kontakte vermutlich noch nie. Ruben bringt seine gesamten Schulsachen mit nach Hause. Er wird noch Instruktionen bekommen, was in den Wochen bis nach den Osterferien zu lernen und zu üben sein wird. Die Schulen sollen ab Mittwoch geschlossen sein, der Schulbesuch am Montag wird den Eltern freigestellt, die geplante Deutschschularbeit abgesagt. Leider wird auch Kung-Fu bis auf Weiteres abgesagt, ich frage mich, wie wir für Bewegung sorgen werden. Auch unsere Parisreise am 19. März wird nicht stattfinden, aber noch ist unklar, ob wir die Kosten selbst tragen müssen. Ich muss einige Mails auf Französisch schreiben und ärgere mich über die Serviceleistung der SNCF-Homepage, ein in sich geschlossenes System. Komme keinen Schritt weiter.
Mittwoch, 11. März | 12 Infizierte in Vorarlberg
Quarantäne in der Lombardei, man darf nur aus beruflichen oder dringenden Gründen auf die Straßen oder um kurze Einkäufe zu erledigen. Die Italiener können dabei von der Polizei kontrolliert werden. In Vorarlberg sind 12 Menschen positiv getestet.
Geisterkonzert in Hamburg: James Blunt spielt in der Elbphilharmonie vor einem leeren Saal, weil das Konzert abgesagt, aber live übertragen wird. Meine Freundin in Hamburg tanzt mit ihrer Tochter im Wohnzimmer. Sie kennt das verwendete Wording der Krisenmanager und macht mich darauf aufmerksam, dass auch ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen werden darf. Bestimmte Dinge möchte ich nicht hören.